Disconnect ist eine dramaturgisch brillant verschachtelte Studie über die Gefahren eines bedenkenlosen Umgangs mit dem Internet
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„Wenn wir einmal unser Zentralnervensystem zu elektromagnetischen Technik ausgeweitet haben, ist es nur mehr ein Schritt zur Übertragung unseres Bewusstseins auf die Welt der Computer. Hat man nicht fast den Eindruck, dass unsere jetzt sich vollziehende Übertragung unseres ganzen Lebens in die geistige Form der Information den ganzen Erdball und die Familie der Menschheit zu einem einzigen Bewusstsein macht?“
Ganz so schnell, wie sich der visionäre, kanadische Kulturwissenschaftler Marshall McLuhan (1911-1980) die Herausformung eines Weltgewissens Anfang der 1960er Jahre vorgestellt hat, ging es dann doch nicht. Aber immerhin hat McLuhan fast vierzig Jahre, bevor das Internet als Kommunikationsmittel Massenmedium wurde, vorausgesehen, dass die Computertechnologie die Menschheit zu enormen kommunikativen und kulturellen Leistungen befähigen würden – die aber auch eine neue, enorme Disziplinierung des Individuums verlangen. Doch sowohl die täglichen Shitstorms als auch das Ausspionieren privater Daten durch private Hacker und Staatsregierungen zeigen, dass sich die Menschheit quasi noch immer im Kindergartenalter befindet, was den verantwortungsbewussten Umgang mit dem Internet betrifft: Es wird herumgesaut und gesudelt, kriminell gehandelt und kriminalisiert, kontrolliert und spioniert.
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Max Thieriot in Disconnect - Foto © Weltkino Filmverleih GmbH
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Welche weitreichenden Folgen einiges davon für den einzelnen Nutzer bedeuten kann, bündelt der qualitätsvolle und unterhaltsame US-amerikanische Spielfilm Disconnect in anschaulicher und emotional packender Form: Anhand von drei verschiedenen Episoden, die permanent parallel verlaufen und virtuos miteinander verwoben sind, illustriert dieser Film als eine der wenigen Produktionen überhaupt, was McLuhan damit meinte, dass Technologie, also auch Medientechnologie per se keine Moral in sich trägt. Stattdessen ist sie ein bloßes Werkzeug, mit dem Menschen ihr Selbstkonzept in die Gesellschaft hinein verlängern – und damit permanent deren kulturelle und soziale Ordnung umformen, die wiederum auf die Menschen zurückwirkt.
In einer der Episoden geht es um das grassierende Phänomen Cybermobbing: In einem Chatroom geben sich zwei Highschoolschüler als ein Mädchen aus, um ihren schüchternen, introvertierten Mitschüler – buchstäblich – zur Selbstentblößung zu treiben. Als sich der Gebobbte umzubringen versucht, geraten auch die Väter der Betroffenen in den emotionalen Strudel. In der zweiten Geschichte versucht eine ehrgeizige Zeitungsjournalistin, einen Online-Stripper dazu zu bewegen, über seine halblegale Arbeit zu berichten, um eine interessante Story zu haben, übersieht dabei aber, dass dessen Anonymität ebenso bedroht ist wie die seiner zum Teil minderjährigen Kollegen und Kolleginnen. Da die Journalistin ihre "Quelle" auch persönlich getroffen hat, gerät sie als Privatperson mitten in die polizeilichen Ermittlungen. In der dritten Episode erleben wir ein Ehepaar in der Krise, die dazu führt, dass die Frau sich mit ihrem Kummer einem Fremden in einem Chatroom anvertraut und der Ehemann beim Online-Pokern abgezockt wird. Der drohende Ruin durch anonyme Kreditkartenabbuchungen lässt bei ihm Rachegelüste aufkeimen, die auch durch kleine Erfolge eines Privatdetektivs nicht vermindert werden.
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Alexander Skarsgård in Disconnect - Foto © Weltkino Filmverleih GmbH
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Sicherlich sind die Themen von Disconnect für die meisten Kinobesucher kein „Neuland“ wie etwa für unsere Kanzlerin. Deswegen verwundert es umso mehr, dass nur wenige andere Filme bisher die Folgen von Datenaustausch und –missbrauch via Internet behandelt haben (eine rühmliche, wenig beachtete Ausnahme war das französische Drama 8Wonderland von 2010). Das mag daran liegen, dass das Chatten oder Mobben per Internet visuell unattraktiv ist. Disconnect-Regisseur Alex Rubin hilft sich mit eingeblendeten Textbausteinen der Chats und einer offensiv gefilmten Ruhe trotz hochdramatischer Kommunikationsvorgänge aus der Patsche. Vor allem aber unterstützt ihn ein herausragendes Drehbuch von Andrew Stern, der die Episoden zunächst sehr schnell und dann immer langsamer sich abwechseln lässt, bis die Konflikte abseits der Keyboards physischen Auseinandersetzungen zustreben. Eine Traumvorlage für jeden Dramaturgie-Dozenten, der das Handwerk paralleler Erzähltechnik an diesem Beispiel wunderbar vermitteln kann.
„Jede Erfindung oder neue Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers, und eine solche Ausweitung verlangt auch ein neues Verhältnis oder neues Gleichgewicht der anderen Organe und Ausweitungen der Körper untereinander. (…) Als Erweiterung und Beschleunigung des Sinneslebens beeinflusst jedes Medium sofort die gesamte Sinnesorganisation.“ Der Kern von McLuhans Medientheorie mag auch heute noch gelten - Disconnect zeigt, dass der Weg zu einem neuen Gleichgewicht unserer Sinne und erst recht unserer Ethik noch weit und steinig ist.
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Jonah Bobo in Disconnect - Foto © Weltkino Filmverleih GmbH
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Bewertung:
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Max-Peter Heyne - 1. Februar 2014 ID 7566
Post an Max-Peter Heyne
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