Sonder- und wunderbar: 30 kurze Jahre Interfilm / Kurzfilmfestival Berlin
Eine Bilanz
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Ausgerechnet auf jenem Festival Deutschlands, das quantitativ die meisten Filme zeigt, dem Kurzfilmfestival Berlin Interfilm – sind auch die meisten innovativen Beiträge zu sehen. Daran kann sich so manches deutsche Filmfest ein Beispiel nehmen. Leider ist das Genre Kurzfilm, das sich durch besondere Originalität und Vielfalt auszeichnet, aus dem Alltagsprogramm der Kinos schon seit langem verschwunden und ins Internet gewandert. Doch auf Festivals erfreut sich dieses Genre immer größerer Beliebtheit (diesmal 23.000 Tickets), was Interfilm nach der BERLINALE zum besucherstärksten Filmfest Berlins macht.
Auch ist Interfilm seit seinen Anfängen als spleenige Super 8-Filmschau der Westberliner Offkultur-Szene immer internationaler geworden. Das Jubiläum wurde mit Recht in besonderer Weise gefeiert, denn Festivaldirektor Heinz Hermanns und sein Team beweisen ein Know How und eine Ausdauer, die ihresgleichen sucht. Per Videobotschaft gratulierten Partner aus den entlegensten Winkeln und sogar die Vereinten Nationen! Mit kurzen Unterbrechungen vernetzt Heinz Herrmanns seit 1982 als Pate des Kurzfilms international die Festivals. Interfilm zählt zu den größten Kurzfilmfestivals weltweit, diesmal wurden aus 7.000 Einreichungen 630 Beiträge aus 70 Ländern ausgewählt, sorgfältig und liebevoll in diverse Sektionen gegliedert und in 60 Programmblöcken präsentiert. Selbst die jeweilige Reihenfolge der Filme wirkte wieder klar durchdacht. Die schrägste Kost erwartete das Publikum auch diesmal wieder bei „Eject – der Langen Nacht des abwegigen Films“, in der alles gezeigt wird, was hysterischen Jubel beim jungen Publikum auslöst.
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(C) Interfilm
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Prätentiöse Attitüden und zur Schau gestellte Professionalität beeindrucken das nach Staunen und Lachen süchtige Berliner Interfilm-Publikum keineswegs. Eigenwilliger Humor, Exzentrik und politische Identität können hingegen nicht schaden. Das Programm „Konfrontationen – Filme gegen Gewalt und Intoleranz“ gehört inzwischen zur Interfilm-Kernidentität wie die „Viral Video Awards“ für Internetclips mit einer speziellen Botschaft, z.B. für Aufklärungskampagnen. 10.000 Internetuser wählten den im Auftrag der Tierschutzorganisation „Peta“ von Regisseur Djawid Hakimyar (Deutschland) über das Töten von Milliarden männlicher Küken in der Geflügelindustrie gedrehten Clip Little Chicks Take Their First Flight zum Besten Viral des Jahres.
Von den Gewinnern der zehn verschiedenen Wettbewerbsprogramme sei wenigstens Habana des französischen Regisseurs Edouard Salier aus dem Programmblock „Weird and Wonderful“ genannt (das ein Motto für das gesamte Festival sein könnte), der nicht nur die Auszeichnung für den Besten Film des internationalen Wettbewerbs durch die Fachjury erhielt, sondern auch den Preis für die beste Kameraführung. Habana verführt den Betrachter auf mehreren Ebenen. In Schwarzweiß gehalten, folgt der Kameramann seinem Protagonisten als Begleiter durch ein Szenario der kubanischen Hauptstadt, das zwar dokumentarisch, aber gleichzeitig visionär seine Phantasien übersetzt: Revolution, Verfall und Umbau, das Leben in Stadtvierteln und die Gassen der Prostitution – dank des rasanten Schnitts und die authentisch inszenierten Aufnahmen ist ein Filmwerk entstanden, das die Preise sehr verdient.
Die diesjährigen Länderschwerpunkte galten Norwegen und Japan, deren Produktionen unterschiedlicher nicht sein können. Japan versucht, seine in den letzten Jahren erlebten Katastrophen im Kurzfilm glatt und durchstilisiert zu kompensieren, währen die Norweger kantig-mutig, oft sogar schroff und schonungslos Protagonisten durch ihre Plots führen. Es wirkte zwiespältig, wie ironisch, moralisch, aber auch hochglanzmäßig verkitscht und pessimistisch die japanischen Filmemacher versuchen, die Traditionen des Landes zu wahren und gleichzeitig auf dem höchsten technologischen Status quo der Zukunft zu sein, was oft jede emanzipierte Haltung vergessen lässt. Selbst die für unsere Verhältnisse wenig kritischen Beiträge gegenüber sozialen Missständen und technischen Katastrophen sind für die japanische Mentalität offenbar heikle Unternehmungen: Frauen sind noch Barbiepuppen, Männer verlieren sich im Technikspiel.
On Detours: Die norwegischen Filmemacher zeichnen sich hingegen durch einen skurrilen, gesellschaftskritischen Humor aus. Die mal lakonische, mal sarkastische Art Filme zu drehen, ist mit der Gesinnung der ukrainischen Regisseure zu vergleichen, deren Werke in einem Programmblock präsentiert wurden. Sie sind sozialrealistische Fiktionen und durch Erlebnisse aus dem Leben der Regisseure inspiriert. Kriminalität ist alltäglich. Bemerkenswert, dass viele Filmemacher der unterschiedlichen Sektionen auf die Ästhetik der 50er und 60er Jahre referierten.
Herausragend die Innovation bei Interfilm, z.B. „Video Game & Film“ – kuratiert in Kooperation mit dem Computerspielmuseum – und „Transitions“. Die beiden Programme zeigten eine spannende Bandbreite und in illusterer ästhetischer Vielfalt anhand professionell hergestellter Produktionen jene oft vermissten, genreübergreifenden Themen, die zum Weiterdenken anregen und dabei viel Spaß machen. Witz, Verblüffung und ästhetischer Genuss ist bei den Sonderprogrammen mit animierten, musikalischen und experimentellen Clips garantiert. Bei "Clip It! Sound and Animation“ gab es u.a. einen psychodelischen Zeichentricktrip (Rita des israelischen Künstlers Valery Yuzefovich), ein düster gezeichnetes griechisches Slashergirl-Musikvideo (Drag Me: an urban music tale) zu den Grunge-Klängen der Band „The You And What Army fACTION“, ein hochgradig ironisches, poppiges Hohelied auf den US-Kapitalismus (Thank You Market) und jede Menge Formen- und Farbenspiele, mal hypnotisierend verfremdet (1000 Plateaus, Kanada), mal aggressive Zombiefilme zitierend (Invasion, Frankreich).
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Rita | (C) Interfilm
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Ein unvergessliches Programmhighlight 2014: die Clips zum Thema Tanz („Body Talks – Dance Shorts“), ein bunter Strauß wundersamer Choreographien in sonderbaren, oft gezeichneten Räumen (z.B. in Azotara von Ada Kobusiewicz , Serbien). Darunter etliche unvergessliche Pas-de-deux: trügerisch-surreal in Zeitlupe und unter Wasser (y2o {distillé} von Dominique T. Skoltz, Kanada), surreal-verfremdet, weil rückwärts getanzt und vorwärts abgespielt (Vanishing Points von Marites Carino, Kanada), aber auch als bizarre Animation, bei der aggressive Gesten von Soldaten und Aufständische nachgezeichnet sind als handele es sich um gelernte Schrittfolgen (Black Tape von Michelle und Uri Kranot aus Dänemark/Israel).
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Black Tape | (C) Interfilm
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Für die deutsche Produktion Gravity von Regisseur Filip Piskorzynski wurde eine junge Frau beim Hochspringen per Stop-Motion-Technik (Einzelbildschaltung) gefilmt, sodass es so wirkt, als könne sie knapp über dem Erdboden schweben. Gehupft wie gesprungen erschließt sie sich die Welt, bis sie nach dem Sprung in einen hohlen Baum wie weiland Alice im Wunderland in eine Gegenwelt gerät. Dort wird sie von einem gesichtslosen Mann domestiziert, der wohl den Grauen Männern aus Michael Endes Jugendbuch Momo entstammt, denn danach hat sich’s ausgeschwebt, bleibt die Schöne erdenschwer im Hier und Jetzt gefangen. Ein Film, der zwar streng genommen nicht Tanz zeigt, wohl aber den Traum aller Tanzenden in poetisch Bilder fasst: die Überwindung der Schwerkraft.
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Gabriele Leidloff & Max-Peter Heyne - 21. November 2014 ID 8266
Weitere Infos siehe auch: http://www.interfilm.de
Post an Gabriele Leidloff
Post an Max-Peter Heyne
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