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Mit Klasse über die Trasse. Die (österreichische) Bahn als Theater zur Aufführung sozialen Unterschiede

von Malte Olschewski (Wien)



Wien-Klagenfurt einfach und mit Zuschlägen sind gleich 45 Euro, was, um an frühere Preise zu erinnern, rund 650 Schilling gewesen wären. Mit dieser atemberaubend teuren Fahrkarte darf man freilich miterleben, wie die Bahn zur Bühne für Aufführung sozialer Unterschiede wird. In den Waggons dürfen Gewinner der Oberschicht Produkte und Rituale zelebrieren, um sich vom Rest der Gesellschaft und der wachsenden Unterschichte abzusetzen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat sein Hauptwerk =Die feinen Unterschiede= dem Gewinn von =Distinktionen zur erfolgreichen Durchsetzung eines Lebensstils im Kampf um gesellschaftliche Positionen= gewidmet. Man möchte es nicht für möglich halten, wie fein und vielfältig diese Signale der gesellschaftlichen Überlegenheit ausgesandt werden. Auch auf der guten, alten Eisenbahn.

Bahn frei für neue Chiffren auf der Bahn! Einst hatte der Staat für billige Beförderung seiner Bürger notfalls von Sankt Radegund an der Wurzel bis Obertschitschtendorf gesorgt. Das Defizit war zu verschmerzen, hätten es nicht die Lokführer, Rotkappler und Schaffner zu traumhaften Provisionen und Zuschlägen benutzt, da in Österreich der Staat aus historischen Gründen Angst vor der Bahn hatte. Die Streichung der sprichwörtlichen ÖBB-Privilegien – mit 45 in Pension - wäre auch ohne Belastung der Reisenden möglich gewesen. Einst die Bastion der Sozialdemokratie und der Arbeiterschaft wurde die Bahn zu einem fahrenden Theater zur Setzung herrschaftlicher Gesten. Zeichen und Verhaltensweisen der Überlegenheit sollten wie überall auch auf Schienen möglich sein. Unzählige Geschäftemacher bedienen bei gehobenen Preisen ihre Klienten bei ihrer vielfältigen Distanzarbeit. Soziale Unterschiede mag es in krasser oder gedämpfter Form immer schon gegeben haben. Durch ein organisiertes Proletariat konnten einige wenige, soziale Verbesserungen erzwungen werden. Im modernen Raubtierkapitalismus wird das unorganisierte Präkariat mit buntem Spektakelwerk abgelenkt. Das geht von einem ungeheuren Angebot von Events bis ins Endlose verlängerte Wettbewerbe in der =Best of= Kategorie von =Starmanie= oder =Dancing Stars=. Neulich wurde auch das schönste Lächeln bei Mädchen und der knackigste Hintern bei Herren preisgekrönt. Leise, Schnittchen für Schrittchen, werden die historischen Errungenschaften wieder abgebaut, während sich die vorgeschickten Abgesandten und Hausmeister der Systemgewinner mit frecher Blödigkei den Vordergrund bedrängen.

Diejenigen, die das Präkariat als neues, nicht mehr organisiertes Proletariat abgehängt haben, wollen ihren Sieg in rauschenden Festen und provokativen Ritualen feiern. Was ist schon ein Sieg, wenn man sich im Circus Maximus der Medienwelt nicht an der Niederlage delektieren kann? Der soziale Unterschied bricht sich heute vielfach über Produktchiffren neue Bahn. Im Fernsehen wird das durch Berichte über die Feste einer mitleidslosen Bussi-Gesellschaft besonders deutlich, die es oft wagt ihren Müßiggang als =Charity= zu verkleiden. Neid und Hass der massiv zusehenden, aber lethargischen Unterschicht verschaffen schaurigen Sendungen wie =Seitenblicke= oder =High Society= ihre Zuseherzahlen. Hier werden teure Speisen verschlungen und edle Tropfen genießerisch im Gaumen gerollt. Es wird rundum gelacht. Es wird das Maul aufgerissen, sodass man die Gaumenzäpfchen baumeln sieht. Wie in düsteren, sozialen Zeiten gewinnt die Nahrungsaufnahme eine gesellschaftliche Distinktion. Das Fressen verdient die Tapferkeitsmedaille in Form von Hauben für die Haubenköche. Die neuen Klassen drängen sich auch in vielen anderen Bereichen nach vorn. Sogar eine simple Bahnfahrt von Wien nach Klagenfurt zum Besuch meiner alten Mutter wird zu einem Bühnenstück.

Was lässt sich die gute, alte Eisenbahn in Österreich nicht alles einfallen, um die Oberschicht ihre Distanz zum abgehängten Präkariat zelebrieren zu lassen! Glaubte man früher, auf Schienen möglichst billig von da nach dort zu gelangen, so wird diese Fahrt heute immer mehr zu einer kostspieligen Demonstration der Einkommensverhältnisse. Auf immer mehr Strecken werden wie einst zur Kaiserzeit Züge mit drei Klassen geführt. Billig ist die Bahn mit ihren schichtenspezifischen Ritualen schon lange nicht mehr. Das beginnt schon mit den so genannten Lounges (französisch für: Aufenthaltsraum) in den großen Bahnhöfen. In den Wartezeiten haben die Privatisierer neue Profite erschnüffelt. Das Warten auf Ankunft oder Abfahrt wird wie alles andere flink ausgebeutet. An den Bahnsteigen oder in der Halle zu warten ist wie überhaupt warten, sinnlos. Warten ist Verharren. Doch der neue Untertan muss ständig unterwegs oder aktiv sein. In den Lounges bekommt er gegen ein Aufgeld voll den Beschuss und die Belästigung durch einen Mix von Unnotwendigkeiten.

Da der Manager offenbar 24 Stunden am Tag managen muss, werden in vielen Zügen Business-Abteile angeboten. Hierbei haben die fußfreien Sitzgarnituren kostbaren Lederbezug, während der Tisch aus Edelbirnenholz gemacht ist. Nein, nicht aus Holz ist er, sondern vom Birnenbaum. Nicht von ihm, sondern vom Edelbirnenbaum ist der Tisch, am dem auch Edelbirnen hängen müssten. Nach Möglichkeit soll alles edel sein oder wirken, zumal der Tisch aus Edelbirnenholz hier den Weg weist. In seiner Nähe sitzt Steckdose für den PC samt einem Internetanschluss. Optimaler Mobilfunkempfang ist gegeben. Sitz und Tisch sind ergonometrisch gehalten, wobei ein =hochgesetzter Abstellbereich für die Aktentasche= nicht vergessen wird. Es gibt ein erweitertes Menüangebot, wobei Speisen und Getränke vom Personal an den Sitz gebracht werden. Zeitungen liegen bereit. In einem Safe kann man die Geschäftspapiere sicher verwahren. Da der Manager andauernd mit anderen Managern konferieren muss, steht auch ein Konferenzwaggon zur Verfügung.

Aber auch in anderen Bereichen wird vorgesorgt. Die Tickets können online bestellt werden. Man kann aus der Speisekarte ein Menü im voraus bestellen. Anstatt im prosaischen Speisewagen zu dinieren, lässt sich der bahnfahrende Manager Speisen und Getränke an den Sitzplatz bringen. Allein reisenden Damen steht für den Fall, dass sie sich fürchten, ein eigenes Damenabteil zu Verfügung, das allerdings drei Monate im voraus zu reservieren ist. Auch für den Wauwau ist vorgesorgt. Haustiere fahren in der 1. und 2. Klasse in einem eigenen Behälter zum Nulltarif, während in der 3. Klasse eine Fahrkarte für Fifi oder Schnurrli zu lösen ist. Für die Kinderchen gibt es bei entsprechenden Aufpreisen ein Kinderspielabteil. Für Mütter mit Babies hat die politisch korrekte Bahn ein =Stillabteil mit Vorhängen zum nötigen Sichtschutz= eingerichtet.

Die Bahn bleibt teuer und fährt mit hoher Geschwindigkeit in einen grundlegenden Widerspruch. Wie soll die Entlastung des Individualverkehrs gelingen, wenn die alternative Bahn so teuer ist? Der Staat steckt Milliarden in den Straßenbau, dessen Wirkung sofort wieder von einer angestiegenen Zahl der Pkws annulliert wird. Die Bahn prahlt liebend gern mit ihren Vergünstigungen und Spartarifen. In Wirklichkeit sind die Rabatte von einem dichten Regelwerk eingehüllt. Ein Dschungel von Bedingungen umgibt das billige Bahnticket. Der umfangreiche Vertrag zum Erwerb einer günstigen Bahn-Card kann wohl nur von einem Manager im Business-Abteil mit Ledersessel und Tisch aus Edelbirnenholz dechiffriert werden. Gegen Aufpreise und Zuschläge kümmert sich die Bahn um alle, nur nicht für den Mann mit knapper Kasse, der die horrend gestiegenen Normaltarife mit 42 Euro etwa für die Strecke von Wien nach Klagenfurt kaum mehr bezahlen kann. Wer die Ermäßigungen nutzen will, muss sich durch ein Labyrinth von ändernden Angeboten kämpfen. Da gibt es verbilligte Tarife für verheiratete Paare mit oder ohne Kindern, für Pensionisten innerhalb einer bestimmten Zeit mit vorgeschriebenen Rückreisetermin oder Bahnreisen zu verschiedenen Kulturwochen. Notfalls können das auch ermäßigte Sonderfahrten zu hirnverbrannten Events sein. Eine Legende erzählt mir davon, dass es 2005 einmal einer Pensionistin namens =Tante Herta= tatsächlich gelungen ist, an einem bestimmten Tag für schmale sieben Euros mit der Bahn von Wien nach Graz zu kommen. Da die Bahn Profite machen muss, ist auch am Schalter eingespart worden. Dafür hat man Fahrkartencomputer aufgestellt, die die Eingabekompetenz des Bürgers bei weitem überschreiten. Also musste neues Personal her, das die Reisenden beraten soll, wie man diesen Computer richtig bedient. Immer eiliger rasen verschiedene =Intercities= unter Auslassung großer Städte von da nach dort, doch immer schwieriger wird es, etwa von Attnang-Puchheim via Bahn etwa nach Maria Zell vorzudringen. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht eine so genannte Nebenlinie eingestellt wird. In früheren Zeiten suchte man sich einen Platz am Fenster. Das Rattern der Räder lud zu einem Nickerchen ein. Die vorbeihuschende Landschaft führte zum Nachdenken und zu einem eigenen Bahngefühl, das mehrfach von Dichtern beschrieben worden ist. Heute müssen Mitreisende ununterbrochen telefonieren. Vor jeder Stationen ertönt die nervenaufreibende Stimme der ubiquitären Altspätzin Chris Lohner, die einem dringend einige Selbstverständlichkeiten mitzuteilen wünscht.

Ein Kodewort des Neoliberalismus ist die Flexibilität, doch flexibel soll nur der andere, der Bahnkunde sein. Was hat die Bahn nur gegen Junggesellen, die nur einmal im Monat mit ihr fahren wollen? Die haben keine Chance, da ihnen die Bahn mit Volltarifen an die Brieftasche greift. Schon lange sind die Verbilligungen bei Rückfahrtkarten abgeschafft worden, denn zurück müssen sie alle, raunt der Bahnhofsvorsteher und verweist auf den Fahrplan, der den Zug zu erhöhtem Preis mit Haltestellen bei Neoliberalismus und Profit im Endbahnhof der herrschenden Gesellschaftsordnung führen will.. Ein jede totalitäre Ordnung muss ihre Untertanen ständig in Bewegung halten, damit sie nie zu Ruhe kommen und dissidente Gedanken ausbrüten. Die ständige Bewegung der Massen war unter Hitler und Stalin oder Mao. Der Diktator will immer im Topf rühren.

Es kann nicht mehr abgestritten werden, dass wird von allen Seiten zu Bewegung und Unruhe aufgerufen werden. Überschlagen sollen wir uns in unserem multiplen Engagement. Aus den adipös aufgeblähten Zeitungen fallen einem eingelegte Beilagen in die Hände, die massiv zum Kauf all jener Dinge verführen wollen, die man ganz sicher nicht braucht. Aus allen Seiten brechen Lawinen mit Aufforderungen herein, dies und das zu tun. Infos ersticken die Logik. Die Schienen verbiegen sich unter der Last der Befehle. Rundum bin ich belagert von einer Beunruhigungsfront, die mir sogar bei einer Bahnfahrt eigene Gedanken rauben will.


Malte Olschewski - red / 13. November 2006
ID 00000002791


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