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Rekonstruktion

Elektra-

Turm



Elena Pankratova als Elektra in der rekonstruierten Dresdner Ruth Berghaus-Inszenierung an der Opéra de Lyon | (C) Stofleth; Bildquelle: opera-lyon.com

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Elektra stand am Anfang der Opern-Laufbahn der Tänzerin, Choreographin und Kommunistin Ruth Berghaus, als die vom Arbeitsverbot betroffene Palucca- und Brecht-Schülerin, Gattin und Gefährtin Paul Dessaus, vom damaligen Berliner Staatsopern-GMD Otmar Suitner couragiert gefragt wurde, ob sie für den plötzlich verstorbenen Wieland Wagner einzuspringen bereit wäre, der in der DDR erstmals inszenieren sollte. Für diese Produktion schrieb ihr Freund Heiner Müller den inzwischen in die Literaturgeschichte eingegangenen Elektratext, den Ausstatter Achim Freyer auf den Eisernen Vorhang malte… Martha Mödl war Klytämnestra … Natürlich setzte Berghaus die gigantische Klangorgie von Richard Strauss einer antinaturalistischen Brecht-Ästhetik aus – der Skandal war perfekt, eine neue Ära brach (nicht nur) Unter den Linden an, noch Jahrzehnte später schrieb Theo Adam, der den Orest gesungen hatte, in seinen Erinnerungen (ohne Berghaus’ Namen auch nur zu erwähnen!), die Musik habe sich in dem kargen Bühnenraum „wohl nicht recht entfalten können“... Selbstverständlich war das ganze Gegenteil der Fall, denn jede naturalistische Ausstattung verhindert eben dieses und legt die Musik frei, Dialektik.

Irgendwie steht nun Elektra auch als (vermutlich) letzte Berghaus-Produktion in der Theatergeschichte. Nachdem die Regisseurin 1980 in Mannheim eine weitere Elektra inszeniert hatte, brachte sie 1986, kurz nach Neueröffnung der Semperoper in Dresden, ihre dritte, wiederum völlig andersartige Elektra auf die Bühne: dieses Mal sollte sich im „kargen Bühnenraum“ die Musik noch mehr entfalten können, als sich der geniale Bassbariton Adam (über den einst Gerhard Müller geschrieben hatte: „der Sänger Theo Adam, nicht zu verwechseln mit dem Regisseur gleichen Namens“ – und umgekehrt!) je hätte denken können. Nämlich erwies sich der Graben für das Mammut-Orchester des Strauss-Einakters als zu klein, und Berghaus schlug damals dem Dirigenten Hartmut Haenchen und Bühnenbildner Hans-Dieter Schaal kurzerhand vor, die Musiker einfach mit auf die Bühne zu holen und um das Geschehen zu gruppieren. So wurde der Elektra-Turm mit seinen Spielebenen entworfen und ragt wie ein Sprungturm aus dem „Schwimmbecken“ der Orchesterfluten empor…

*

Jetzt sind drei Jahrzehnte vergangen - und ein außergewöhnlicher Opernintendant, Serge Dorny, hat für das alljährlich stattfindende thematische Opernfestival in Lyon eben diese berühmte Inszenierung revitalisieren lassen, um mit je drei Produktionen drei verstorbene Regisseure in den Fokus des Festes zu stellen: Berghaus’ Dresdner Elektra, dazu einerseits Heiner Müllers einzige Opernregie, sein Bayreuther Tristan (1993) im Bühnenbild von Erich Wonder, und andererseits Klaus Michael Grübers schlichte Krönung der Poppea (Monteverdi) von 1999 (für Aix-en-Provance mit dem ebenfalls inzwischen verstorbenen Maler Gilles Aillaud kreiert; in Lyon von einem Spezialensemble unter Musikalischer Leitung von Sébastien d’Hérin dargeboten). Alle Ausstattungen wurden komplett neu hergestellt, auch für Elektra hatte Hans-Dieter Schaal seine Originalentwürfe mitgebracht. So gelang ein Ereignis, mit dem Intendant Dorny zweifellos Zeichen gegen den grassierenden Kulturverfall in Europa setzte.

Die Aufführung beginnt imgrunde schon, wenn sich langsam der Vorhang vor dem Turm hebt, der bis in die Höhe der Bühne ragt (und: der Lyoner Opernbau bereits ist ein Erlebnis moderner Architektur, für dessen schwarzes Zuschauerrund die Ästhetik der Elektra-Bühne viel eher gemacht zu sein scheint als für die der historisierten Semperoper). Was dann mit den ersten Orchesterschlägen losgeht, ist nach wie vor atemberaubendes Theater höchster Qualität. Hartmut Haenchen gelang mit nicht nachlassender Energie ein stringentes Dirigat, das die Spannung durch die Wechsel des Dramas von der ersten Sekunde an bis zum Ende unweigerlich steigerte und dabei der Transparenz dieser monumentalen Partitur nichts schuldig blieb: selten je leuchteten so kristallin die Mittelstimmen inmitten des Klanggewebes. Er entlockte dem engagiert folgenden Orchester metallischen Glanz.

In der Titelpartie überzeugte Elena Pankratova rundum, sie blieb durchweg Zentrum des Geschehens und fesselte mit ihrem Spiel in allen Nuancen, wie mit der enormen Gesangsleistung - besonders in den dramatisch exorbitanten Stellen der Agamemnon-Beschwörung, der Verfluchung ihrer Schwester und im Erkennungsschrei „Orest!“. Dennoch hatte sie, wie alle Beteiligten, bisweilen Schwierigkeiten, sich in den Mittellagen gegen die so ungedämmte Wucht der orchestralen Klangmassen zu behaupten, was nicht Wunder nimmt. Hervorragend auch Lioba Braun als ihre alptraumgequälte Gegenspielerin Klytämnestra, die ebenfalls den „Berghaus-Stil“ bis ins letzte Detail meisterte und mit beeindruckender Prägnanz ein großartiges Rollenporträt darbot! Christof Fischessers Orest hatte (auch stimmlich) überlegene Eindringlichkeit, ergreifend der Dialog zwischen ihm und Elektra. Die nüchternen Vorgänge bei der Ermordung des Aigisth (Thomas Piffka) werden zum erschütternden Fanal, der zum Mörder Berufene knickt vor „der Tat“ ein, wird nach ihrem Vollzug die Tötungsbewegung nicht mehr los, ist selbst ihr Opfer.

Die Berghaus-Schülerin und Berliner Regieassstentin Katharina Lang hatte gewissenhaft die wie stets höchst präzise Regie der Berghaus einstudiert, mit deren Körpersprache und Gestik eine jüngere Sängergeneration offenbar keinerlei Problem hatte. Die Aufführung wirkte so lebendig und logisch wie am ersten Tag, und die Interpretation erwies die Kraft ihrer kompromisslosen und klaren, ja noch immer avantgardistische Sicht des Werkes. Allein die Lichtregie faszinierte wie einst. Von Vergänglichkeit keine Spur. Im Gegenteil bewährt sich Berghaus’ Methode in Zeiten allgemeiner Reaktion und wenn die von den Umständen Deformierten, wie zu Beginn des Dramas, nach vollzogener Tat, wieder in die Weite, ins Ferne, Ausschau halten, wartend, hoffend, so wirkt es, als suchten sie im Vergangenen nach Verheißung, nach Zukünftigem.



Die rekonstruierte Elektra-Inszenierung von Ruth Berghaus - an der Opéra de Lyon | (C) Stofleth; Bildquelle: opera-lyon.com

Olaf Brühl - 2. April 2017
ID 9955
ELEKTRA (Opéra de Lyon, 26.03.2017)
Musikalische Leitung: Hartmut Haenchen
Inszenierung: Ruth Berghaus
Realisation: Katharina Lang
Bühnenbild: Hans Dieter Schaal
Kostüme: Marie-Luise Strandt
Licht: Ulrich Niepel
Besetzung:
Klytämnestra ... Lioba Braun
Elektra ... Elena Pankratova
Chrysothemis ... Katrin Kapplusch
Aegisth ... Thomas Piffka
Orest ... Christof Fischesser
Der Pfleger des Orest ... Bernd Hofmann
Die Vertraute ... Pascale Obrecht
Die Schleppträgerin ... Marie Cognard
Ein junger Diener ... Patrick Grahl
Ein alter Diener ... Paul-Henry Vila
Die Aufseherin ... Christina Nilsson
Mägde ... Anthea Pichanick, Rebekka Stolz, Catalina Skinner-Moreno, Géraldine Naus und Marianne Croux
Dienerinnen ... Marie Cognard, Pascale Obrecht, Sharona Applebaum, Celia Roussel-Barber, Joanna Curelaru Kata und Sophie Calmel-Elcourt
Chor und Orchester der Opéra de Lyon
Premiere war am 17. März 2017.
Rekonsruktion der Dresdner Semperoper-Inszenierung von 1986


Weitere Infos siehe auch: http://www.opera-lyon.com


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