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Premierenkritik

5. April 2014 - Oper Leipzig

THE RAKE'S PROGRESS

DIE KARRIERE EINES WÜSTLINGS


The Rake's Progress an der Oper Leipzig - Foto (C) Kirsten Nijhof


Warte auf mich auf dem Grund

des Swimmingpools


Faust lässt mich offenbar nicht los.

Nach der freundlichen Einladung der Oper Leipzig dreht sich auch hier alles um einen Helden, der einen Pakt mit dem Teufel schließt, vom Pfade der Tugend abkommt, Feinsliebchen verlässt, weil er lieber um die Häuser zieht und den dann mit dem Wahnsinn die gerechte Strafe ereilt. So weit, so öde, so kleinbürgerlich. Selbstverwirklichung als strafbare Handlung. Das kann ja heiter werden.

[Man merkt es sicher, hier schreibt ein Sympathisant der Midlife-Kreiselnden beiderlei Geschlechts, denen oftmals unlautere Motive unterstellt werden und die doch meist nur Zweifel an allem plagen, am meisten an sich selbst. Sollte diese Minderheit im Stück also diskriminiert werden, schmeiße ich mich mit der Tastatur schützend vor sie, nehme ich mir fest vor, ehe ich im RE von Dresden noch ein Konzentrationsschläfchen nehme.]



The Rake's Progress an der Oper Leipzig - Foto (C) Tom Schulze



Es stellt sich dann doch etwas anders dar: The Rake's Progress ist Strawinskys einzige abendfüllende Oper, 1951 in Venedig uraufgeführt, allerdings auf neoklassizistische Weise, was sie dann zumindest musikalisch im 18. Jahrhundert verortet; die Anleihen bei Mozart, Monteverdi und auch Händel sind in der Tat nicht zu überhören. Inspiriert wurde der Komponist dazu von einer Serie von acht Kupferstichen von William Hogarts, A Rake’s Progress, die äußerst ironisch und für ihre Entstehungszeit um 1735 ungewöhnlich modern daherkamen und Aufstieg und Fall des Jünglings Rake im Moloch London darstellten. Das Libretto übernahm dann der englische Dichter Wystan Hugh Auden, diese Konstellation hätte heutzutage sicher viele Fördermittel eingeworben: Ein russischer Franko-Amerikaner vertont einen Text eines Engländers, das Ganze wird in Italien uraufgeführt. Oper goes global.

Auch die Grundstory hat durchaus europäische Verwandte: Faust und Peer Gynt haben sicher ein wenig Pate gestanden. Nur ganz so komplex wie diese Überwerke ist der Plot nicht: Ein Fast-noch-Jugendlicher, Tom Rakewell, moralisch ungefestigt, aber immerhin mit fester Freundin Anne und deren Vorstadt-Spießeridylle samt Vater Trulove gesegnet, begegnet seinem zweiten Ich Nick Shadow. Jener macht ihn zum reichen Erben und verschafft ihm, nachdem der erste Haufen Kohle standesgemäß mit Koks und Nutten durchgebracht wurde, eine gute Partie: Die Dame Baba the Turk ist zwar alt, fett und hässlich, aber ordentlich reich, das erleichtert vieles. Wenn auch nicht alles, und nachdem Tommy der (dem?) Vettel überdrüssig wird und der Ausflug ins Charity-Business ebenso grandios scheitert, fordert Mephisto Nick nun den Preis: Die Seele - doch die gibt es nur bei dahingeschiedenen Korpus. Aber Nicky menschelt plötzlich, er lässt sich auf ein Spiel ein, und die Liebe gewinnt in Form der immer im Hintergrund wachenden Anne: Nick verliert die rechtmäßig ergaunerte Seele und die Stellung, vergleiche Faust II, es reicht aber immerhin noch, den Rakewell mit Wahnsinn zu schlagen. Jener endet dann in einer Art Verwahranstalt, ohne seine Anne nebst Vater Trulove zu erkennen, woraufhin jene entweder ins Kloster geht oder sich neuen Herausforderungen stellt.

Gänzlich überflüssigerweise wird uns dann in einem Epilog die Moral von der Geschicht nochmal kurz nahegebracht.

*


The Rake's Progress an der Oper Leipzig - Foto (C) Tom Schulze



Für eine Oper eine ganze Menge Handlung. Auch wenn die insgesamt neun Bilder der drei Akte die Übergänge meist vermissen lassen, die Geschichte vermag zu fesseln. Nicht zuletzt liegt das an den Fähigkeiten des rein italienischen Inszenierungsteams: Lichtdesign (Alessandro Carletti) und Kostüme (Carla Teti) sind vom Feinsten, und eine Bühne ist das, eine Bühne! Paolo Fantin hat wahre Wunderwerke konstruiert, die zudem atemberaubend schnell gewechselt werden. Beginnt es noch recht erwartbar mit dem very british Vorgarten mit sauber geschnittener Hecke, öffnet sich mit der Ankunft des Helden in London ein Bassin voller Gold, ein Edelpuff mit ebenso hübsch dekorierten AngestelltInnen, in den (die?) man schon aus ästhetischen Gründen einkehren möchte, zumal die sieben Todsünden verführerisch über der Szenerie leuchten, auf Latein, das sieht besser aus. Handlungsgerecht verlottert das Bassin leider ein wenig im Zuge der Aufführung und gibt am Ende immerhin noch ein trostloses Irrenhaus ab, dies aber ganz vorzüglich. Meine Fresse! Was für ein Wurf!

Der Glanz dieses genialen Trios für alles, was nicht von selbst laufen kann auf der Bühne, fällt natürlich auch dem jungen Schon-Star-Regisseur Damiano Michieletto zu, der damit sein Deutschland-Debüt gibt, völlig zu recht, er hat das alles so zusammengeführt und bringt zudem die Sänger meist ganz wunderbar zum Spielen, was nicht selbstverständlich ist. Und ein Regieeinfall gefiel mir ganz besonders: Bei der Zwangsversteigerung des umfangreichen Hausrats von Baba und Tom latscht jener mit seinem Spezi Nick von links nach rechts durch das Parkett und bietet hörbar angeschickert alte Weiber feil.

Dass Signore Michieletto für mich dennoch anderthalb Fehler macht am Ende, trübt meinen Gesamteindruck leider ein wenig: Das letzte Bild, „Im Irrenhaus Bedlam“, schleppt sich und schleppt sich. Hier wird aber mal so richtig gelitten und ausführlichst gestorben, es ist eine wahre Pein im Saal. Gefühlt fünfzehn Minuten wären hier locker kürzbar gewesen, und der moralinsaure Epilog hat auch nur aus satirischen Gründen eine Berechtigung im Stück, finde ich. Und sich für eine Epoche zu entscheiden, in der das Stück dann handelt (ich habe mindestens die 50er und die 70er Jahre erkannt, und das Irrenhaus war definitiv nicht aus diesem Jahrhundert), wäre schon gut gewesen. Aber vielleicht bin ich da zu ordnungsliebend.

Dennoch, den Namen Michieletto gilt es sich zu merken, er möge wiederkommen, mit der ganzen Brigade.



The Rake's Progress an der Oper Leipzig - Foto (C) Tom Schulze

*

Ach ja, Musik war auch. Ich bin da zurückhaltend, nicht weil es mir nicht gefallen hätte, sondern weil mein Urteilsvermögen immer noch sehr übersichtlich ist dabei. Deswegen kann ich zwar reinen Herzens über ein wohlklingendes Cembalo (Bo Price) und ein kraftvolles Gewandhausorchester schreiben, doch das bleibt das Urteil eines Laien, der hier nicht weiter in die Tiefe gehen kann und will.

Die SängerInnen erlebte ich allesamt (wie schon berichtet) darstellerisch stark - gesanglich sagte mir Tuomas Pursio als Nick Shadow noch ein wenig mehr zu als Norman Reinhardt, der den Tom Rakewell gab, am besten fand ich sie jedoch im Duett. Die Krönung der fast drei schönen Stunden: Die Sopranistin Marika Schönberg als Anne Trulove, eine bezaubernde Einheit von Spiel und Gesang.

Zu belobigen ist unbedingt der Chor der Oper Leipzig (Einstudierung Alessandro Zuppardo), großartige Szenen im Bordell, bei der Versteigerung und im Irrenhaus.

Und das Extralob am Bande geht an das Programmheft (verantwortlich die Dramaturgin Marita Müller, die auch eine aufschlussreiche Einführung gab): Nicht nur wird das Stück und dessen Geschichte nebst den Machern umfänglich ausgeleuchtet, assoziationsreich werden auch Bezüge ins Heute hergestellt, z.B. zum „Wolf of Wall Street“, auf die man erstmal kommen muss. Und dann hat man auch noch die Chuzpe, einen Text der von mir verehrten Musik- und Textformation Tocotronic abzudrucken. In einem Opernprogramm! Derfen die denn das?

Also am Ende doch alles richtig gemacht.


Bewertung:    


Sandro Zimmermann - 6. April 2014
ID 7733
THE RAKE'S PROGRESS (Opernhaus Leipzig, 05.04.2014)
Musikalische Leitung ANTHONY BRAMALL
Inszenierung DAMIANO MICHIELETTO
Bühne PAOLO FANTIN
Kostüme CARLA TETI
Lichtdesign ALESSANDRO CARLETTI
Choreinstudierung ALESSANDRO ZUPPARDO
Dramaturgie MARITA MÜLLER
Besetzung:
Ann Trulove ... MARIKA SCHÖNBERG
Baba the Turk ... KARIN LOVELIUS
Trulove ... MILCHO BOROVINOV
Tom Rakewell ... NORMAN REINHARDT
Nick Shadow ... TUOMAS PURSIO
Mother Goose ... SANDRA JANKE
Sellem ... DAN KARLSTRÖM
Wärter SEJONG CHANG und FRANK WERNSTEDT
CHOR DER OPER LEIPZIG
GEWANDHAUSORCHESTER
Premiere war am 5. April 2014
Weitere Termine: 11., 24. 4. / 9., 18. 5. 2014
Koproduktion mit dem Teatro La Fenice, Venedig


Weitere Infos siehe auch: http://www.oper-leipzig.de


Post an Sandro Zimmermann

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