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Konzertkritik

Mahlers

Auferstehungs-

sinfonie



Bewertung:    



„Diese Musik traf mich wie ein Blitz“, bekannte 2006 im Bayrischen Rundfunk der US-Amerikaner Gilbert Kaplan: „Ich war 25 Jahre alt, als ich Mahlers Zweite Symphonie zum ersten Mal hörte. Als ich nach dem Konzert den Saal verließ, war ich ein anderer Mensch als vorher.“ Ob die Aufführung durch das Konzerthausorchester Berlin unter Iván Fischer am vergangenen Freitag bei irgendjemand auch ein solches Schlüsselerlebnis auszulösen vermocht hat, möchte ich bezweifeln. Kaplan, ein erfolgreicher Geschäftsmann, begann infolge seiner Erweckung Musik und Dirigieren zu studieren, nur um Mahlers "Zweite" aufzuführen – was ihm in der Tat gelang und zu weltweiten Auftritten verhalf.

Wenn Kaplans Interpretationen etwa 1 Stunde und gute 20 Minuten dauerten, wie die unter Leopold Stokowski, deren Aufführung ihn so beeindruckt hatte, und die historische Einspielung von Carl Schuricht mit den Wiener Philharmonikern 1 Stunde und 18 Minuten oder die unter Claudio Abbado nur über fünf Minuten länger…: die Aufführung von Iván Fischer brauchte zwanzig Minuten mehr und dürfte zu den langsamsten zählen überhaupt – mithin streckenweise auch zu den langweiligsten. Das ist angesichts des existenziellen Charakters der „Zweiten“ erstaunlich genug, in der die Frage nach dem Sinn des Lebens, Trauer, Humor, Verzweiflung und schmerzlich-süße Erinnerungen eine Klanglandschaft von faustischen Dimensionen auftut, um schließlich in den Schrecken des Totengerichts und des erlösenden Preisens der Unsterblichkeit alles Existierenden zu kulminieren.

„Wenn du aus der Ferne einem Tanze zusiehst, ohne dass du die Musik dazu hörst, so erscheint die Drehung und Bewegung der Paare wirr und sinnlos…“ Gustav Mahlers Erläuterung scheint Iván Fischer zur Konzeption seiner Interpretation inspiriert zu haben, indem er dieses Motiv mit völliger Gleichmäßigkeit auf die gesamte Partitur anwendete, sie in eine distanzierende Zeitlupe dehnte, schier um seine dirigentische Energie vorzuführen, mit der er den Riesenapparat in diesen Bogen spannte. Alles war auf die Steigerungen und großen Effekt kalkuliert, die Form glänzte, „Die Predigt hat g'fallen, sie bleiben wie allen.“

„Wenn Sie dann aus diesem wehmütigen Traum aufwachen, und in das wirre Leben zurück müssen, so erscheint die Welt wie im Hohlspiegel, verkehrt und wahnsinnig. – Mit dem furchtbaren Aufschrei der so gemarterten Seele endet das Scherzo.“ Bei Fischer ist es nurmehr der gekonnt polierte Ausbruch einer tösenden Superlautstärke… Insgesamt blieb alles in bravourösem Hochglanz, unverbindlich und glatt. Von „gemarterer Seele“ keine Spur – ohnehin zwang die Langsamkeit solche Generalpausen hervor, dass die Ankurbelung der Wiener-Walzer-Parodien sich so verlor, wie so unmusikantisch auch der jüdische Volkston: imprägniert gegen alle packende Leidenschaft, gegen die zerwühlende Dramatik der Lebensfragen, die radikale Bittersüße von Sehnsucht und Schmerz, die erschütternden Abstürze und bitteren Assoziationen, sie lösten sich mit dieser Musikdarbietung in beteiligungslosen Schönklang auf. So dünnblutig hörte ich noch nie Mahler, so nur das Formale stringent zur Perfektion treibend, kein „allmächtiges Liebesgefühl durchdringt uns mit seligem Wissen und Sein“ am Ende, bloß der Respekt vor solcher Anstrengung!

*

In der Tat beeindruckend war die musikalische Leistung der Ausführenden. Allen voran Elisabeth Kulman, deren schönes „O Röschen rot“ ganz samtig und weich dahinströmte und trotz des Tempos fast noch den Text verstehen ließ. Auch Christina Landshamer konnte mit ihrem makellosen Sopran aufleuchten, indessen der Tschechische Philharmonische Chor Brno (Leitung & Einstudierung: Petr Fiala) zweifellos alle Anwesenden vom ersten leise anschwellenden Ton bis zu den mächtigsten Blöcken faszinierte! Großartig! Doch obwohl bereits das „Aufersteh’n, ja, Aufersteh’n!“ auf klare Deklamation hin komponiert ist, hätten die Verse Klopstocks auch Ungarisch oder Tschechisch gewesen sein können: so gedehnt, war kein Wort zu verstehen und dem Dirigenten wohl auch nicht besonders wichtig.

Das Konzerthausorchester (von dessen Vorgänger, dem Berliner Sinfonieorchester eine legendäre Aufnahme der Zweiten unter dem damaligen Chefdirigenten Günther Herbig existiert, die an Wucht und Leidenschaftlichkeit die aktuelle Sicht zweifellos übertrifft) bot alle Virtuosität und klangliche Kultur auf und wurde zurecht für seine Höchstleistung am Ende gefeiert – bestrickend schön, wie das Oboensolo im Vierten Satz die Kantilene der Alt-Solistin weiterführte. Es ist ungerecht, nur eine Instrumentalistin zu erwähnen, denn alle Gruppen verdienten das Lob des dankbaren Publikums.

Sicher ging dennoch niemand innerlich aufgewühlter aus dieser so technokratischen wie gleichgültigen Konzertdarbietung hinaus, als zuvor hinein, geschweige, verließ das Haus „als ein anderer Mensch“ (inklusive der Dirigent): man konnte unbehelligt von verstörenden Fragen, Zweifeln und Zerwürfnissen anschließend zum Abendessen gehen.



Das ist Iván Fischer, der Chefdirigent des Konzerthausorchesters Berlin. | Foto (C) Marco Borggreve / Bildquelle: konzerthaus.de


Mahlers Werk hingegen, das m.E. trotz der brillanten Partiturwiedergabe letztlich in seiner philosophischen Tragik und Monumentalität gar nicht stattgefunden hatte, ist hingegen kaum zu überschätzen: ohne es wäre etwa die Struktur der Sinfonik Schostakowitschs undenkbar, der ihn nicht nur so inbrünstig bewunderte, dass er sogar Mahlers Witwe in Wien besuchte und sich in der Sowjetunion um die Popularisierung der Sinfonien sehr verdient machte, sondern auch wörtliche Mahler-Zitate in eigenen Schöpfungen einarbeitete.
Olaf Brühl - 15. Januar 2017
ID 9788
KONZERTHAUSORCHESTER BERLIN (Konzerthaus Berlin, 13.01.2017)
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 2 c-Moll (Auferstehungssinfonie)
Christina Landshamer, Sopran
Elisaberth Kulmann, Mezzosopran
Tschechischer Philharmonischer Chor Brno
(Choreinstudierung: Petr Fiala)
Konzerthausorchester Berlin
Dirigent: Iván Fischer


Weitere Infos siehe auch: http://www.konzerthaus.de


Post an Olaf Brühl

http://www.olafbruehl.de



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