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Konzertkritik

Nie wieder!

Goldbergvariationen im Berliner RADIALSYSTEM V


Bewertung:    



Gottlieb, das 13jährige Genie, das Bach für seinen begabtesten Schüler hielt und dessen Fähigkeiten sogar für den Leipziger Musikdirektor ganz erstaunliche gewesen sein müssen, soll 1740 unmöglich bereits fähig gewesen sein, diese 32 Veränderungen einer Aria zu spielen, so heißt es heute. Nun, vielleicht spielte der Jüngling sie ja etwas später oder nicht komplett, um seinen Dienstherren, den Reichsgrafen von Keyserlinck, russischer Gesandter am Dresdner Hof, der sich, um schlaflose Nächte mit solch edelster „Erheiterung“ zu vertreiben, vom befeundeten J.S. Bach ein dann fürstlich belohntes Klavierwerk für seinen jungen Claviristen bestellte. Dieses daher später nach dem Meisterschüler Gottlieb Goldberg-Variationen genannte Wunderwerk stellt seither einen Gipfel Bachscher Klaviermusik dar, einen wahren Gold-Berg, sozusagen: dessen Mount Everest.

Wie so viele Werke wurden auch die Goldberg-Variationen für andere Besetzungen bearbeitet, keineswegs immer gelungen. Die sinnfälligsten dürften, neben jenen für Klavier (denn das Original fordert zweimanualige Instrumente!), noch immer die für Orgel (Jean Guillou!) oder zwei Hackbrette sein. Legendär sind die Aufnahmen von Wanda Landowska und Gustav Leonhardt und vor allem die mit den Pianisten Glenn Gould und Rosalyn Tureck.

Da RADIALSYSTEM V die anstehende Darbietung der Goldberg-Variationen mit dem berühmten Cembalisten Andreas Staier als einem Künstler des Hammerklaviers ankündigte, der das Werk mit dem Hamburger Barock-Ensemble Resonanz in Korrespondenz zu einer neuen Komposition des Belgiers Georges Lentz setze, um „Neugier zu wecken“, muss Schreiber eingestehen, solches auch erwartet zu haben und folglich überrascht war, nur eine Bearbeitung Staiers für Streichorchester geboten zu bekommen. Diese klang dann weder „barock“, noch modern oder nach Bachschen Kompositionsprinzipien – welche ja voraussetzen, dass jede einzelne Stimme jederzeit auch für sich alleine einen musikalischen Sinn zu ergeben habe. Etwas das auf gelegentliche Wumms und Schramms und Läufe, auch wenn sie nur verschobene Noten Bachs sind, nicht mehr zutreffen kann (vom „Wecken“ ganz zu schweigen).

Falls es ein Experiment war, dann ist es auf überflüssige Weise gescheitert. Warum der IV.Teil von Bachs Clavier-Übung überhaupt für Streichorchester arrangiert sein muss, das hat sich mir nicht geoffenbart. In einem Klangbild etwa von Brittens Simple Symphonie (inkl. Pizzicato-Chören!) sind Werkstrukturen und Musiksinn ersoffen. Natürlich kann man selbst die schnelleren Stücke in dem (obendrein leicht halligen!) Raum und mit den vielen Instrumenten pro Stimmgruppe nicht wirklich schnell spielen, geschweige die schnelleren Läufe. Die langsamen waren noch langsamer - und fad: denn lange Tonwerte auf dem Klavier bekommen, von Streichern bloß lang gezogen, nicht unbedingt mehr Sinn geschweige Sinnlichkeit, sondern verwischen Strukturen mithin. So reihten sich die „Veränderungen“ ohne größere Kontraste. Immer abwechselnd: Kammerbesetzung, dann Orchester, mal „rascher“, meist langsamer – oft unschön klingend.

Staier, als Dirigent genannt, saß HINTER dem Orchester am stummen Klavier und zeigte mimisch Anteilnahme an dem Geschehen, dem ein Dirigent durchaus ermangelte (ich will gar nicht erst an Hermann Scherchens Bearbeitung der Kunst der Fuge mit dem CBC Toronto Chamber Orchestra erinnern, zumal die Kunst keine spezifische – zumal derartig spezifische! – Klavierkomposition ist). – Ab und an wäre Schreiber dieses gerne ans leerstehende Dirigier-Pult gestürzt, um den Musikern Impulse und Akzente zu geben oder zu fragen: was sie da wollen? was sie da tun? worum es ihnen jetzt gehe? Musik ist doch etwas, das von Einem zum Andren führt, zieht, drängt, bringt – und nicht nur Eins nach dem Andren macht, Ton um Ton. Vom universalen Gehalt des Werks war da nicht mehr viel zu spüren.

Die vier Bach-Blöcke wurden von drei ganz langsamen Lentz-Sätzen „aufgelockert“, die ganzundgar Stehenbleiben, Verklingen, Verlöschen schienen. Religiös gerechtfertigte Stücke, auf einzelnen Tönen beharrend, wahrhaft monoton und noch langsamer als das Langsame. Der Esoterik-Ansatz solch vermutlich meditativ gemeinten Misuks infizierte alles mit dünnblütiger Substanzleere. Als der große Andreas Staier da hingebungsvoll konzentriert anfing, auf dem „präparierten“ Klavier Tasten anzuschlagen, wäre Schreiber dieses gerne geflohen, denn alles andere in der Welt und der Zeit musste dagegen MEHR SEIN, selbst der stille Anblick der Nacht.

Als am Ende wiederum die mit versetzten Einsätzen zersetzte Aria des Beginns wiederholt wurde, war das keineswegs die angereicherte Wiederkehr des Unveränderten nach einer Erfahrung, keine Aufhebung auf einer neu gewonnenen Ebene, sondern nurmehr das erlösende Ende. Das Publikum hatte sich zwar gelangweilt, jubelte aber zum Verbeugen.

Ein schöner, warmer Sommerabend, den man lieber an den lieblichen Ufern der Spree verbracht haben sollte, auch wenn der Mond in seinem Hof verschwamm. Auch der.

Diese Aufführung hätte unseren Grafen kaum zu „erheitern“ vermocht – dafür garantiert zum Einschlafen gebracht (wie meine Sitznachbarin) – was aber weder Zweck noch Sinn eines Bach-Werkes je war, noch sein sollte. Davon ist Schreiber dieses ohne den Hauch eines Zweifels überzeugt.



Ensemble Resonanz | Foto (C) Tobias Schult/Bildquelle: radialsystem.de

Uwe Schwentzig - 23. Mai 2016
ID 9328
Weitere Infos siehe auch: http://www.radialsystem.de



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