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Essay

NIKOLAUS HARNONCOURT

Hommage im Konzerthaus Berlin


Nikolaus Harnoncourt - Foto (C) Photowerk/Werner Kmetitsch

Wenn es einen Musiker in unserer Zeit gibt, der eine in der Tat anti-bürgerliche, anti-elitäre und existentielle Herangehensweise in die Musikwelt der Klassik einbrachte und diese mit seiner kritisch-historischen Methode revolutionierte, auf dass nichts mehr ist, wie es zuvor war, so der vor 85 Jahren in Berlin geborene und in Graz aufgewachsene Nikolaus Harnoncourt:

"Als ich zum zwanzigsten Mal die g-Moll-Symphonie von Mozart spielte, und die Leute begannen zu lächeln und im vermeintlich richtigen Takt den Kopf zu wiegen, da wurde mir grausam zu Mute. Ich bekam einen heiligen Zorn auf den Dirigenten, der das Werk so spielte, dass derlei möglich wurde, obwohl das die tragischste Musik überhaupt ist, wo es um Leben und Tod geht." (Quelle: Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten. Die Sprachbildwelt des Nikolaus Harnoncourt, Residenz Verlag 2003)

Entsprechend reagierte das eingefleischte Klassik-Publikum ablehnend bis höhnisch auf die ersten Darbietungen Alter Musik in historisierender Aufführungspraxis, mit der Harnoncourt und seine Mitstreiter, dem glättend romantischen Einheitsschönklang entgegentraten, um den vitalen Reichtum der Farben und Ausdrucksskalen dieser quasi verschütteten Musik wieder neu aufzuspüren. Es war ein alternatives Musizieren mit originalen Instrumenten, und neben Knabenchören sangen in den Altpartien Counter-Tenöre, erschütterten im seriösen Konzertleben die Klischees von Geschlecht und Rolle und öffneten es neuen Sichten, wie Vieles in der Ära der Studentenrevolten und Kommunen nach neuem Sinn und dem eigentlichen WARUM? fragte. So überrascht nicht, wenn noch 1988 anlässlich eines Mozart-Konzerts am Abend vor der Eröffnung der Salzburger Festspiele (der Domäne Karajans und seiner Kulturschickeria), dem Auftritt von Harnoncourt mit Friedrich Gulda so bösartige Kampagnen vorausgingen, dass der berühmte Pianist alle Termine für die eigentlichen Festspiele in Solidarität mit dem Dirigenten absagte.



Nikolaus Harnoncourt - Foto (C) Marco Borggreve


"Harnoncourts Mozart ballt die Faust und hält wenig Galantes bereit", schrieb ein Musikkritiker; nun, das ist einseitig und wird dem Künstler nicht gerecht. Das dramatische Interesse gewinnt bei Mozart eine Art universale Dimension, indem er die Konflikte dialektisch beschreibt und durchspielt, ob in seinen Arien, Fugen, Sonatenhauptsätzen oder Satzfolgen. Insofern ist es schlüssig, ihn, wie es Peter Hacks nachdrücklich und wiederholt tut, mit Shakespeare, Goethe oder Hegel immer wieder in Bezug zu setzen (die beiden Letzteren beziehen sich selbst auf Mozart). Und insofern ist es schlüssig, wenn Harnoncourt generell alle Werke Mozarts, auch die rein instrumentalen, unter dem dramatischen, d.h. dialogischen und dialektischen Aspekt angeht.

Er hat dem Vorwurf, bei ihm klänge Mozart immer so, „als sei sonst was passiert“, gekontert: „Es ist ja auch sonst was passiert!“ – Oder: „Unfälle sind das einzig Interessante im Leben.“ – Und in der Tat, wer einen beruhigten Hochglanz-Mozart, süßliches Rokoko zu Dessert und Feierstunde erwartet, wird von Harnoncourt garantiert ent-täuscht. Immer sind bei ihm die Impulse für Musizieren inhaltlicher Natur. Es geht wirklich um „Ereignisse“, um das, WAS sich ereignet: um Erfahrung. Die großen Meisterwerke sind nicht bloße Belege handwerklichen Könnens und eines irgendwie „schlechthinnig“ Schön- oder Gutseins, sondern, wie alle Kunst, ein subjektiver Ausdruck von Auseinandersetzungen existentieller Art, Auseinandersetzungen mit dem Objektiven. Arnold Schoenberg meinte treffend: „Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen!“

So versteht und durchforscht Harnoncourt die Partituren als Aussagen und Erzählungen von menschlichem Da-Sein, immer von neuem auf der Suche, warum es so ist wie es ist. Musikrevolutionär wirkte und wirkt in diesem Sinn seine nun schon klassische Textsammlung Musik als Klangrede, Musik also als Text, Gesang als Kommunikationsform, als Sinnträger – aber eben musikalisch, das heißt: als ein Nicht-anders-Formulierbares, quasi als So-Gemusstes. Er hat das für die von ihm interpretierten Werke nachgewiesen. Auch das Abstrakte ist ein „Text“, auch das Namenlose hat einen erfahrbaren Sinn… „Jede Kunst ist Sprache“ hat er gesagt und das mit jeder seiner Aufführungen voller Vitalität bewiesen.

Harnoncourt bekannte gegenüber Jürgen Otten (Frankfurter Rundschau): „Mein Blick ist künstlerisch kein rückwärts gewandter. In meiner Musik bin ich nur Jetzt und Morgen.“ Eine Art von kreativer Archäologie, modern, doch Karriere- und Modetrends zuwider laufend, unhierarchisch, kollektiv, kollegial noch mit den einfachsten der Menschen. Im erwähnten Interview sagte Harnoncourt 2009: „Das ist ein Teil der Botschaft. In dem Moment, wo ich die Sprache kenne, bin ich einige Schalen tiefer eingedrungen, ich erfahre Dinge, die derjenige, der einfach nur die Oberfläche anschaut, nie erfahren wird – was ein trauriger Aspekt in der Kunst ist. Jemand, der die Grammatik nicht beherrscht, wird sich womöglich schwerlich erschüttern oder bis ins Innerste aufreißen lassen können. Aber es gibt gewiss ebenso eine direkte emotionale Erfahrung, die ohne Wissen auskommt.“

Umso bitterer ist, dass sich die linke Szene offenbar von der Bourgeoisie die Hochkultur als „elitär“ vorenthalten lässt und das Vorurteil, den Kulturraub, den die herrschende Klasse an den Massen vollzieht, erfüllt, indem sie die zugeteilte Rolle identifikatorisch übernimmt. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg war die Arbeiterklasse von Wissbegier und kulturellem Hunger erfüllt, gründete Arbeiterbildungsvereine, die Volksbühnenbewegung (der Berlin die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz verdankt) und Arbeiterchöre, die einst der geniale Dirigent Hermann Scherchen, selbst Berliner Arbeiterkind, leitete, und nicht nur um Kampflieder oder Beethovens Neunte aufzuführen. Gerade für die zunehmend und besonders kulturell und sozial Entrechteten ist Kultur wichtig, wäre besonders die eines Harnoncourt relevant.

Ende der 70er antwortete der Chef der VEB Deutsche Schallplatten, Hansjürgen Schaefer auf eine Anfrage meinerseits: man würde in der DDR die „Harnoncourt-Welle“ nicht mitmachen (anstatt etwa: die Lizenzbedingungen sind zu ungünstig o.ä.). Schon 1984 jedoch nahm Harnoncourt in der Dresdner Lukaskirche für eben dieses Label zwei Orchester-Serenaden Mozarts mit der Staatskapelle Dresden auf, und ein Hansjürgen Schaefer war just Autor der Einführungstexte auf dem Plattencover, wo er des Dirigenten Kunst hoch pries. Es war diese DDR-Produktion bislang die erste und einzige Einspielung der Haffner-Serenade von ihm, und so hatte das Programm jetzt am 19. Oktober im Berliner Konzerthaus mit diesem Stück einen besonderen Reiz.

* * *



(C) Konzerthaus Berlin | Bildquelle: konzerthaus.de



Unter dem Motto „Einmal noch Berlin!“ kam eine Zusammenstellung zu Gehör, die der Dirigent mit dem eignen Ensemble Concentus Musicus Wien noch nie einstudiert hatte: eben des jungen Mozarts große Haffner-Serenade in D-dur (KV 250/248b), mit dem Marsch D-dur (KV 249) voran, sowie nach der Pause die Linzer Sinfonie in C-Dur (KV 425), die etwa den Drehpunkt zwischen den Frühen und den späteren Meister-Sinfonien markiert. Wolfgang Amadé (er nannte sich nie „Amadeus“ – höchstens zum Spaß mit richtigem Namen: Theophilius) hatte sie in Windeseile im November 1783 für ein Konzert in Linz komponiert.

Überraschenderweise wandte sich der fast 85-jährige Harnoncourt, schlank und agil wie eh und je, vor dem ersten Ton ans Publikum und machte einige Aufmerksamkeit steigernde Bemerkungen zur nun folgenden „Braut-Musick“ des Zwanzigjährigen, der schon alles vom Leben wusste und mit seiner Komposition quasi eine „Predigt“ über das Eheleben komponiert habe, wo der festlichen Freude des Anfangs auch weniger freudige Momente folgen würden, es bleibe nicht bei den Feiertagen, Überdruss, Streit und aber Versöhnungen folgen. Harnoncourt ließ Motive vom Orchester kurz anspielen, etwa eine Wendung aus dem Andante, mit dem plastischen Kommentar etwa: so klingts wie wenns die ganze Woche immer nur Kohlsuppe gibt und dann wieder Kohlsuppe, und dass dann auch mal die Teller gegen die Wand fliegen.

Der junge Komponist hatte gefordert, der erste Satz solle nur „recht feurig“ gespielt werden – und feuriger als bei Harnoncourt hätte es gar nicht sein können, geradezu explosiv – doch immer musikantisch, voller Farbreichtum und Lebendigkeit. Jeder Ton, jeder Akkord waren sinnlich ausgekostet, gerade in den langsameren Sätzen, deren Tempo, behutsam gesetzt, ein Modellieren jeder Sinngebung, aller Klangnuancen ermöglichte und jedes Motiv, jede Bewegung in ihrer ganzen Plastizität zu wahren Erlebnissen werden ließ – eine erzählende, malerische Musizierweise, voller Sinn, Sinnlichkeit und purem Vergnügen! Das wohl für Mozarts Vater Leopold in die Serenade eingebettete Violinkonzert löste beim Konzerthauspublikum (und den Musikerkollegen!) spontan einen ganz unüblichen Zwischenapplaus aus, schwindelerregend leidenschaftlich, ja schier unglaublich brillant hatte Konzertmeister Erich Höbarth das Solo hingezaubert.

Anschließend erstrahlte die Linzer Sinfonie so packend wie gemeißelt, und als habe man das Stück noch nie gehört, entfaltete es unter Harnoncourts sparsamen aber prononcierten Zeichen eine ungeahnte Dramatik und Tiefendimension. Jede Stimme, jede Instrumentengruppe blieben stets transparent und noch im Zusammenklang autonom wahrnehmbar. Die melodische Klangrede wurde pulsierend lebendig durch das genaueste Herausarbeiten des Mit- und Gegeneinander der Streicher, der Bläser, der Paukenakzente, dank scharf gesetzter Phrasierungen und Artikulation, blieb die Konzentration stets gebannt. Am Ende brach die Zuhörermenge in Jubel aus, standig ovations für einen großen Künstler unserer Zeit und seine Mitstreiter – für eine singuläre Lebensleistung: Alle Kultur ist ein Trotzdem!

Ivan Fischer, Chefdirigent des Konzerthausorchesters, selbst war es, der seinem einstigen Lehrer und Meister während des Schlussapplauses einen Blumenstrauß überreichte – und sicher auf ihn geht wohl auch der Impuls zurück, dass Berlin den 85. seines großen Sohns mit einer „Hommage an Nikolaus Harnoncourt“ im Konzerthaus ehrt... DANKE!


Olaf Brühl - 22. Oktober 2014
ID 8185
Vom 7. bis 16. November 2014 ist eine Ausstellung über den außergewöhnlichen Künstler Nikolaus Harnoncourt im Werner-Otto-Saal für Konzertbesucher mit Ticket an bestimmten Konzerttagen jeweils eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn geöffnet. Außerdem werden nachmittags Führungen durch die Ausstellung zum Preis von 3 Euro angeboten...

Weitere Infos siehe auch: http://en.konzerthaus.de/harnoncourt-hommage





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