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Festival

Ein Fest

für alle

Sinne




Auf ein Motto habe man bewusst verzichtet, schreibt Dirigent Ingo Metzmacher im Vorwort zum Programm für die ersten von ihm verantworteten KUNSTFESTSPIELE HERRENHAUSEN. Ausgangspunkt des Programms ist vielmehr die Sinneswahrnehmung der Zuschauer - und dabei vor allem das Hören.

Was damit gemeint sein könnte, zeigt beispielsweise die deutsche Erstaufführung von the whisper opera aus dem Jahr 2013. In einem durch weiße Tücher abgetrennten Raum sitzen die Zuschauer in kleinen Gruppen von fünf bis sieben Personen am Rand einer Spielfläche, die allerdings so hoch angebracht ist, dass man eher hört als sieht. Die Musiker sind angehalten, so leise wie möglich zu spielen, die Texte werden geflüstert. Ein spannendes Experiment, das zum Einen zeigt, dass manche Instrumente gar nicht wirklich leise gespielt werden können, zum Anderen aber tatsächlich die Wahrnehmung schärft: Gehört dieser Ton, dieses Geräusch dazu oder nicht? Leider stößt bei alledem ein wenig die Banalität der Texte, die der Komponist David Lang die Sopranistin Tony Arnold flüstern lässt, auf: Es sind Äußerungen aus Chatrooms und Websites, in denen Menschen ihre Gefühle äußern. Im filigranen Rahmen von the whisper opera, die nur in einer Live-Aufführung erlebt werden kann, da eine Aufnahme aufgrund der geringen Lautstärke nicht möglich ist, wirken diese Texte zu konkret, zu plakativ.



the whisper opera bei den KUNSTFESTSPIELEN HERRENHAUSEN | Foto (C) Nathan Keay / MCA Chicago; Bildquelle: kunstfestspiele.de


Das Programm der KUNSTFESTSPIELE HERRENHAUSEN zeigt deutlich die Handschrift Metzmachers und legt den Fokus auf zeitgenössische Musik bzw. Musik des 20. Jahrhunderts. So war Steve Reich, Komponist und Vertreter der Minimal Music, eine Woche lang an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover zu Gast. Am Freitag vor Pfingsten wurde hier im Richard Jakoby Saal seine Video-Oper Three Tales aufgeführt, erstmals zusammen mit WTC 9/11, einem Werk Reichs für Streichquartett und Tonzuspielungen. Das renommierte Ensemble Modern musizierte unter der Leitung von Brad Lubman gemeinsam mit den auf Reichs Vokalstil spezialisierten Synergy Vocals.

Drei Momente der Technikgeschichte sind Thema der Video-Oper von Steve Reich: der Absturz des Luftschiffs Hindenburg im Jahr 1937, die Atombombenversuche der 1940er Jahre im Bikini Atoll und das Verfahren des Klonens anhand des Beispiels Dolly. Videokünstlerin Beryl Korot und Komponist Steve Reich haben dabei ein gemeinsames Werk von hoher inhaltlicher Dichte und Diskursivität geschaffen. Musikalisch dominieren die Perkussion und iterative Momente, die mit dem Bildmaterial eine kongeniale Verbindung eingehen, wenn etwa ein Forscher seine kontroverse These, der Mensch sei nur eine Maschine und die DNA das entsprechende Material, in dem alle wichtigen Informationen kodiert sind, wieder und wieder wiederholen darf.

Im zweiten Teil dann andere, leisere Töne bei der Komposition WTC 9/11, die die Ereignisse rund um den Einsturz des World Trade Centers in New York thematisiert, sich dabei aber erfreulicherweise auf Textprojektionen beschränkt und auf die Projektion von Bildern verzichtet. Das liest sich alles sehr viel kopflastiger als der Abend tatsächlich war. Die Idee, beide Werke Reichs zu verbinden, geht auf, da sie beide auf ihre Art menschliche Tragödien thematisieren, die auch mit der Hybris des Menschen zu tun haben, damit, dass er sich nicht an seinen gottgegebenen Platz hält, dass er nicht auf die Stimme der Natur hört, sondern stets nach mehr, nach Herrschaft strebt. Nicht von ungefähr sind es Zitate aus der Bibel zur Schöpfungsgeschichte, die im ersten Teil des Abends eine Art roten Faden bilden. Gott habe den Menschen erschaffen und in den Garten Eden gesetzt - „to keep it“, ist so ein Zitat, das lange nachhallt und zum Nachdenken anregt. Frenetisch wurden alle Beteiligten am Ende gefeiert.



Three Tales & WTC 9/11 bei den KUNSTFESTSPIELEN HERRENHAUSEN | Foto (C) Helge Krückeberg; Bildquelle: kunstfestspiele.de


Am Sonntagvormittag trat Intendant Ingo Metzmacher dann selbst ans Pult und versammelte bei den Gurre-Liedern von Arnold Schönberg nahezu alles, was in Hannover in Sachen Musik Rang und Namen hat, auf der Bühne: von der NDR Radiophilharmonie über den Bachchor Hannover bis zum Jungen Vokalensemble. Der frisch renovierte Kuppelsaal bot dafür einen mehr als passenden Rahmen. Die Idee, zu diesem Anlass alle Plätze in Parkett und Hochparkett bei freier Platzwahl zu einem Einheitspreis anzubieten, stieß allerdings nicht überall auf Begeisterung und sorgte für Momente großer Anspannung, bevor die Türen geöffnet wurden.

Schönbergs Gurre-Lieder aus den Jahren 1900 bis 1911 (zuvor hatte er Jens Peter Jacobsens Gedichte rund um den sagenhaften dänischen König Waldemar und seine Liebe zu dem Mädchen Tove bereits für Klavier vertont) waren Zeit seines Lebens eines der publikumswirksamsten Werke des Komponisten. Hier hört man wenig vom späteren Zwölf-Ton-Setzer Schönberg, eher von einem Künstler, der die Zeitströmung des Fin de Siècle mit einem großen spätromantischen Stoff seismographisch genau zu einem überbordenden Orchesterwerk verschmilzt. Ist der erste Teil vor der Pause noch vom Liebeswerben und Wechselgesang von Waldemar und Tove geprägt, ändert sich im zweiten Teil u.a. durch die Beteiligung von etlichen hannöverschen Chören, die gerade so auf der Empore im Kuppelsaal Platz finden, die Klangfarbe und der Charakter der Gurre-Lieder. Äußerst beeindruckend dann das finale „Seht die Sonne“. Überhaupt sei lobend hervorgehoben, mit welcher Umsicht und Fokussierung Ingo Metzmacher das riesige Ensemble durch das Werk steuert und die Balance zwischen opulentem Klang und kammermusikalischen Elementen hält. Die Solisten überzeugen allesamt mit ihrer Textverständlichkeit. Ein Kraftakt, der aber nicht wie ein solcher klingt, und ein würdiger Quasi-Auftakt für die KUNSTFESTSPIELE HERRENHAUSEN unter neuer Intendanz, die ihr Festivalprogramm (auch das erwähnt Metzmacher im Vorwort zum diesjährigen Programm) vor allem aus dem Hören entwickelt.

*

Bei all diesen musikalischen Hochgenüssen kommen, um das Thema der Sinne wieder auf den Plan zu rufen, auch die Augen nicht zu kurz, obwohl bei der Klang- und Lichtinszenierung Finsternis1816 von Werner Cee, Klaus Grünberg und Beate Schüler auch für die Ohren etwas geboten wird. Etwas schwierig ist es schon, sich im stockdunklen Großen Garten in Herrenhausen zurechtzufinden. Aber sobald die Sonnenuhr erreicht ist, blickt man in der Ferne in ein überdimensionales rotes Licht. Folgt man diesem, gelangt man an das andere Ende des Gartens und mitten in eine Soundinstallation, die aus den einzelnen Ecken des Gartens hinüberweht. Finsternis1816 thematisiert die Naturkatastrophe, die mit dem Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 2015 verbunden war. Der darauffolgenden Sommer war auf der Nordhalbkugel ungewöhnlich düster und kalt. Cee, Grünberg und Schüler verbinden u.a. Passagen aus Lord Byrons Gedicht Darkness mit elektronischen Klängen und Geräusche und schaffen so einen assoziativen Rahmen, um sich mit einer der größten (und eher unbekannten) Naturkatastrophen auseinanderzusetzen. Die rote Lichtquelle ist dabei Anziehungspunkt für die Menschen, die nachts durch den Park wandern und in ihrem Licht lange Schatten werfen, und Symbol für Vernichtung in einem.

Die Videoinstallation Dance (All Night, Paris) verfolgt dagegen einen eher spielerischen, leichten Ansatz und weiß damit zu überzeugen. Melanie Manchots Arbeit zeigt Paare, die auf einem Platz tanzen. Immer mehr Tanzenden kommen im Verlauf des Videos dazu, auch größere Gruppen. Rhythmus und Melodie sind für die Zuschauer nicht zu hören, die Tänzer erhalten sie über Kopfhörer eingespielt. Der Zuschauer kann sich ebenfalls einen Kopfhörer nehmen, hört darüber aber nur die Geräusche, die auf dem Platz zu hören sind: Schritte, Atmen, das Schwingen von Tüchern. Das lenkt die Aufmerksamkeit naturgemäß auf die Tanzenden selbst, auf ihre Körper, ihre Bewegungen, ihr Miteinander. Die Tänzer tanzen jeweils ihren Tanz – paarweise oder als Gruppe –, alle in ihrem Stil und zu einer anderen Musik. Und dennoch tanzen sie alle harmonisch miteinander auf dem Platz, in ihrer ganzen Vielfalt.



Finsternis1816 bei den KUNSTFESTSPIELEN HERRENHAUSEN | Foto (C) Klaus Grünberg; Bildquelle: kunstfestspiele.de


Karoline Bendig - 17. Mai 2016
ID 9313
Die KUNSTFESTSPIELE HERRENHAUSEN laufen noch bis zum 29. Mai 2016 - genügend Zeit also, sich auf das eine oder andere Sinneserlebnis einzulassen.

Weitere Infos siehe auch: http://www.kunstfestspiele.de


Post an Karoline Bendig



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