Ein wahrhaft
göttliches
Aufgebot
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Ingrid El Sigai als Die schöne Helena an der Volksbühne im Großen Hirschgraben, Frankfurt | Foto © Andreas Malkmus
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Bewertung:
Wolken aus Pappe hängen, stimmungsvoll angeleuchtet, vom Bühnenhimmel. Alexander J. Beck hantiert als Orestes, Sohn des Agamemnon, mit einem güldenen Parfümfläschchen, das er maßlos liebevoll in die Luft sprüht. Die aufgedrehte Gestalt im schillernden, silbrig glänzenden Gewand weidet sich sichtlich am Duft. Sie lässt dazu lustvoll ihr Stimmorgan beben. Zwei ihm nachfolgende Spartaner scheinen ihr Bewusstsein gleichfalls bis zur Besinnungslosigkeit vernebelt zu haben. Mit nach hinten gebeugten Rücken und übersteigert maskenhaft verzerrten Grimassen treten sie singend und stampfend auf Kalchas (Jochen Döring) zu. Der Jupiterpriester in Sparta dreht sich angewidert weg, um sich dann doch abschätzig zu äußern. Helena hat hier bereits vor dem holprigen Getöse genervt Reißaus genommen.
Es sind turbulente, urkomische Szenen, die in der sehr aufwendigen Produktion Die schöne Helena im kleinen Haus der VOLKSBÜHNE IM GROSSEN HIRSCHGRABEN gezeigt werden. Ein Dutzend Ensemblemitglieder wird durch ein links auf der Bühne platziertes Musikersextett (Namen s.u.) ergänzt. Auch das kleine Orchester kleidet sich in antik anmutende Tuniken oder Togen. Zu Beginn hält Theaterchef Michael Quast eine kurze Einführung, in der er darauf hinweist, dass noch nie so viele Menschen auf der Bühne gespielt haben. Er erklärt, dies sei auch das Weihnachtsstück der traditionsreichen freien Bühne, in dem Zuschauer auch allerlei Engel eifrig herumschwirren sehen dürften. Pianist Markus Neumeyer trägt tatsächlich güldene Engelsflügel auf den Schultern, und auch später tanzen Engel auf der Spielfläche. Theatermaler Armin Reich fertigte für die rechte Seite detailreich eine mit einer Art Tempelbau bestückte Drehbühne, die später nach der Pause eine Liegefläche im Schlafgemach der titelgebenden Königin Helena preisgibt.
Die 1864 in Paris uraufgeführte Opéra bouffe von Jacques Offenbach, die als Vorlage dient, erscheint in einen völlig neuen Gewand. Michael Quast, der den König Menelaos mimt, und Rainer Dachselt fertigten selbst eine lockere Neuübersetzung mit vielen Reimen an. Es wird mehr gesprochen als gesungen oder musiziert. Ingrid El Sigai, die als Königin Helena weiß, dass sie die schönste Frau der Welt ist, erfährt von dem Paris-Urteil. Sie ahnt, dass Venus sie als schönste Frau für den trojanischen Prinzen Paris auserkoren hat, obwohl sie die Gattin des Menelaos ist. Sie kommentiert dies so, nur weil sie durch einen Vogel, den Göttervater Zeus in der Gestalt eines Schwanes, gezeugt wurde, sei sie noch lange nicht flatterhaft. Ulrike Kinbach mimt mit kunstvollem Kapitell auf dem Haupt als eine von zwei griechische Säulen den Chor, der das Geschehen spannungsvoll und betont ernsthaft kommentiert (Bühne und Kostüme: Anna Sophia Blersch). Sie plaudert aus, dass mit Zeus, der Leda als Schwan heimsuchte, auch das Wort „vögeln“ erfunden worden sei. Ihre Partner-Säule (Gabriel Spagna) rügt sie hierfür mit einem bösen Blick.
Pikant wird es auch spätestens, wenn Paris (Sam Michelson) agil, spendabel und wortgewandt mit halbfreien Oberkörper Helena heimsucht. Der 35-jährige Akteur mimt den Paris mit Eifer, Leidenschaft und Hartnäckigkeit, wenn er alle seine Ver- und Entführungskünste aufbietet, um Helena für sich zu gewinnen. Diese ist sowieso bereits der ständigen Ermüdungserscheinungen, Ehrerbietungen und Eifersüchteleien von Menelaos leid. Doch zunächst muss sich Paris im sportlichen Wettkampf gegen ausgewiesene, zähnefletschende und muskelbepackte Helden, wie Achilles (Melissa Breitenbach), Ajax I (Susanne Schäfer) und Ajax II (Pirkho Cremer) durchsetzen. Wie gut, dass Agamemnon (Eric Lenke), der Anführer der Griechen, aufgrund einer Art Sparta-Studie erkannt hat, dass das Volk auf dem Boden antiker Arenen dringend Bildung benötigt. Obwohl sich die gefürchteten Kriegshelden lautstark beteiligen, kann der freche und altkluge Paris bei einem Fragerätsel auch durch die Gutmütigkeit und Naivität von Menelaos punkten.
Die Aufführung bietet so allerlei Überraschungen dar, etwa auch Verweise auf eine Sparta-Bank und fallende Börsenkurse in Zeiten der Griechenlandkrise. Das Musikersextett sorgt für stimmungsvolle kammermusikalische Momente und setzt mit Soli Akzente. Gesanglich punktet Ingrid El Sigai als Helena mit der bei weitem überzeugendsten Operettenstimme, wobei Sam Michelson als Paris sehr rhythmischen Gesangmomente beisteuert und auch Eric Lenke als Agamemnon und Jochen Döring als Kalchas mit ausdrucksstarkem Gesang aufhorchen lassen. Einige Zoten und Gags, wie der Wunsch des Jupiterpriesters nach kulinarischen Opfergaben oder die wiederholte Erwähnung der Achilles-Verse werden reichlich überzogen. Auch choreographisch gibt es während der rundum vergnüglichen und rasanten Performance einige Überraschungen. Eine erzürnte Venus dürfte durch diese Performance, in der schlussendlich auch sogenannte „notgeile Böcke“ auf der Bühne sinnenhaft ihr Unwesen treiben, reichhaltig besänftigt werden.
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Die schöne Helena an der Volksbühne im Großen Hirschgraben, Frankfurt Foto © Andreas Malkmus
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Ansgar Skoda - 6. Dezember 2025 ID 15593
DIE SCHÖNE HELENA (Volksbühne im Großen Hirschgraben, 04.12.2025)
Regie: Sarah Groß und Michael Quast
Musikalische Leitung: Rhodri Britton (Orchesterfassung)/ Markus Neumeyer (Korrepetition)
Bühne und Kostüme: Anna Sophia Blersch
Maskenbild: Katja Reich
Regieassistenz: Christof Fraunholz
Mit: Alexander J. Beck, Melissa Breitenbach, Pirkko Cremer, Jochen Döring, Ulrike Kinbach, Eric Lenke, Sam Michelson, Michael Quast, Susanne Schäfer, Gabriel Spagna, Christof Fraunholz und Ingrid El Sigai (als Helena) sowie den Musikerinnen und Musikern Leevke Hinrichs, Léa Villeneuve, Anna Sophie Matzen, Myriam Colliou,
Ching Yun Lin, Anna-Lena Perenthaler, Iris Werhan, Rhodri Britton und Markus Neumeyer
Premiere war am 4. Dezember 2025.
Weitere Termine: 06., 12., 13., 20., 27., 29.12.2025// 16.01./ 13.02.2026
Weitere Infos siehe auch: https://volksbuehne.net
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