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Uraufführung

Femme non voulue:

Hans Werner Henzes Phaedra



Hans Werner Henze ist ein, für viele der deutsche zeitgenössische Komponist, der seit Dezennien in Italien, in der Nähe Roms und des Nemi-Sees lebt. Die Welt dort, in forma Landschaft, Himmel, Mystik, Soziographie wuchs ihm ins Herz. Warum also nicht ihr, wie zuletzt auch in der Märchenoper vom Wiedehopf L’upupa, nicht diesem italienischen Akazienaroma eine Oper widmen, eine Phaedra, deren Linien den Duft von Frühling, Sommer, von Herbst und Winter des südkontinentalen Mikrokosmos tragen, bis in ihre formale Anlage: Sie beginnt am Morgen (1. Akt, 1. Szene) führt über Abend und Nacht (2. Akt), bis hinüber zum erneuten Morgenlicht (Epilog).

Das ist kaum ungewöhnlich: Andere Komponistengrößen wie Carl Maria von Weber im Freischütz, Richard Wagner in der Ring-Tetralogie, Gustav Mahler, fast immer, aber sonderlich in der 6. Sinfonie, Richard Strauss in der Alpensinfonie, desgleichen Benjamin Britten und selbst Luigi Nono – sie alle huldigten besonderen Landschaften in ihrer und durch ihre Musik. Bei Henze erwächst aus einer sich fallenlassenden Naturbetrachtung in seinem Heim La Leprara eine Realität zweiten Grades: beseelte Natur. Sie ist die eigentliche Wirklichkeit, sagt seine Musik, sonst sagt in der Berliner Lindenoper niemand etwas. Alles Außermusikalische an diesem Uraufführungsabend ist draufgeklebte Etikette vom „Ich mach’s Gegenteil“-Peter und seinen engagierten Laien für Bühne und Kostüme. Etiketten vom Format des Werbebanners eines Telekommunikationsmagnaten vor St. Hedwig oder der grellroten Leuchtstoffröhren vorm Alten Museum mit dem unwahren Satz „All art has been contemporary“. Darüber wird noch etwas zu sprechen sein.



Maria Riccarda Wesseling (als Phaedra) und Marlis Petersen (als Aphrodite) - Foto (C) Ruth Walz


Henzes neunzigminütiges Kammermusikdrama Phaedra jedenfalls erreicht souverän jene juvenil-optimistische Frechdachsigkeit des „Wundertheaters“, jene dramaturgische, wenn auch keineswegs die textliche Stringenz wie im Prinz von Homburg oder des Jungen Lord, über weite Strecken auch jene satztechnische Brillanz wie in der „7. Sinfonie“ oder zuletzt der „Scorribanda sinfonica“ und vereinigt all das mit einem Sujet, aus dem wie in Venus und Adonis, mehr noch in den frühen Werken wie König Hirsch oder Die Bassariden die Kraft des Mythos selber spricht, in persona dieser Femme non voulue Phaedra, Theseus’ zweiter Frau: Geliebt und Gefürchtet – von Euripides bis Schiller.
Das deutsche Mannswesen, seine Anziehung und Flucht vor dem Eros ist eine Geschichte für sich, die an sich unlängst bleibenden Schaden auf der Welt hinterlassen hat. Hans Werner Henze weiß sie fortzuschreiben. Angezogen fühlt sich Henze subjektiv überhaupt nicht von Phaedra, sondern vom schönen Hippolyt, dem affektarmen Amazonenspross. Erste Flucht. Indem dieser Anti-Orpheus sich an die Keuschheitsgöttin Artemis allein verschreibt, macht er Aphrodite zornig, die vom wahrhaft Schönen wahre Verehrung erwartet; Verehrung, die Hippolyt nicht geben kann, weil er gar nicht ahnt, dass er schön ist. Schaut er in den Spiegel, bekommt er Angst. Zweite Flucht. Im Zorn pflanzt Aphrodite in die am Leben unlängst verzweifelte Phaedra lebenshoffendes Begehren zu Hippolyt ein, der seine nackte Stiefmutter aber nicht erträgt. „Phaedra? Stiefmutter?“ fragt der aus dem Schlaf entrückte und stößt sie fort. Dritte Flucht. Phaedra leidet unter der Verstoßung und Hans Werner Henze wäre kein Opernkomponist, ließe er sich eine große Briefszene (und später eine Gewitterszene!), in der Phaedra ihre vorgestellte Wunscherfüllung in übersteigerter Weise einer Vergewaltigung an den hier dauerhaft abwesenden Theseus ausformuliert, woraufhin dieser über Poseidon einen Vollstrecker, den Minotauros, sendet. Hippolyt, so berichtet es uns Artemis, wird vernichtet. Phaedra vernichtet sich auch. Doch so – das ist das Verdienst der einen Seitenstrang von Seneca weiterverfolgenden Librettisten Christian Lehnert und Henzes – endet dies Drama nicht, sondern geht mit einem künstlichen Koma Hippolyts erneut los. Am Nemi-See erwacht Hippolyt, quasi aus dem Geiste des ihn herbeisehnenden Komponisten, hier in Form des übergeschlechtlichen Countertenors Artemis, und wird wieder von Phaedra und Aphrodite aufgespürt. Der Akt mündet nach einem schwächeren Abschnitt der späten ersten und zweiten Szene mit dichter musikdramatischer Präzision in ein großes Duett zwischen Phaedra und Hippolyt ein, das viele Nuancen der Aversion und Appetenz auszuleuchten versteht. Auch „im Spiegel“, in der Höhle bekommt Hippolyt aber schnell zu viel, will sich aus ihr und vor allem von Phaedra befreien. Vierte Flucht, eine, die zu gelingen scheint. Der neue Morgen kommt: In biophiler Harmonik und einer von Klavier und Bläsern changierenden Melismatik mit Strecken von Tonbandeinspielungen entspinnt sich eine Stimmung des Friedens, eines Ruhens zwischen Unschuld und Eros, zwischen apollinischem und dionysischem. Der Fluchtpunkt ist da, als ein utopisch gewordenes Innehalten im Tanz aller dramatis personae.

„Wenn ich sie haßte, würde ich sie nicht fliehn.“ Der Hippolyt Schillers scheint anders zu empfinden als Henze: die hohe Tessitura des Mezzos Phaedra führt mutwillig bis in die keifige, ja sehnige Lage hinauf und ist offensichtlich von der verblendeten Absicht geleitet, eine sexgeile Hexe und ihre allseits wünschenswerte, von Hippolyt zu vollstreckende Inquisition zu komponieren. „They hoped for a good fuck“ – das projiziert allen Ernstes ein von gutdeutscher Triebverachtung geplagter, dazu aber offenkundig mit einer doppelten Injektionsdosis schopenhauerischem Frauenressentiment aufgeladener homosexueller Komponist in die Köpfe einer schaumgeborenen Liebesgöttin wie Aphrodite und einer in sich vereinsamten Phaedra. Bereits in dem letzten Lustspiel L’upupa mischen sich Frauenverachtung und stiller Antiisraelismus in bedenkenswerter Weise: die blass komponierte Jüdin Badi’at soll sich dort dem Islamjüngling Kasim assimilierend unterordnen und steht zuletzt verlassen da. Phaedra wird am Ende zur Seite gestoßen und unter Götterdenkmälern begraben. Der Übergang zum Wald-Epilog ist nichts anderes als übelster Lohengrin: Frau tot, Mann erlöst.

Jedoch missglückt Henze hier (wie dort) die totale Desavouierung des weiblichen Geschlechts, ähnlich wie Wagner bei Beckmesser, an dem Material und an dem meistenhalben verständigen Libretto von Christian Lehnert. Musikalisch geschaffen ist entgegen allen persönlichen Ressentiments – vielleicht durch die Paradoxie von Oper – eine Femme non voulue, die man sofort ins Herz schließt und zu den großen Frauengestalten der Opernbühne von Alcina bis zu Salome und Lulu zählen möchte. Man kann sicher nicht genau ergründen, wie sich solch eine Altersblindheit einstellt: Ob er nur Augen und Ohren für Hippolyt hat? In einem Brief an Bachmann sagte Henze einmal, er fürchte sich so sehr vor einer bestimmten Form der Dunkelheit in der dauerregnerischen Außenwelt Italiens. Es ist vermutlich die besondere Dunkelheit Ostwestfalens seiner Kindheit gemischt mit der Dunkelheit des deutschen Faschismus, an die ihn dieser Anblick erinnerte – eine Art Urangst, die hier negativ, weil verdrängt, zurückschlägt in wütende Aversion auf das erossprühende abgrunddunkle Weib. Statt ihre Verhältnisse zu entlarven, ihren Bann, soll sie persönlich büßen, für das, wofür sie mythologisch einsteht und was Henze in seinem Werk mit dem Tanz des Minotauros selbst so herbeisehnt: Frieden zwischen Sexus und Ratio, Leben und Todesbewusstsein.
Die 23 Instrumentalisten vom Frankfurter Ensemble Modern sorgen für eine günstige Uraufführung dieser farbsatten und im zweiten Akt auch gleich arg dissonanten Partitur unter Leitung von Michael Boder, von dem man sich freilich hie und da ein wenig präzisere Klangausdeutung gewünscht hätte. Wohl hätte er dem Regisseur Mussbach in Kenntnis von im Grunde Szene abrufenden Instrumentalwerken Henzes leicht ausreden können diese Konzert-Oper zum Opernkonzert vor dem Spiegel werden zu lassen. Denn die mehrmalige Einmündung in den chorischen Kommentar erlaubt schlechterdings keine Aufführungspraxis über den Terminus Konzert, sondern nur einen über Oper, die hier immer wieder wie am Ende der Szenen 1/1, 1/3 oder 1/5 umschlägt in eine (humane) Distanz zur Handlung. Mussbach setzt diese Geschichte von Hippolyt, seinen Weg, seine Suche zum Spiegel oder etwas Numinoserem, und auch seine Angst sich in Phaedra zu spiegeln gar nicht ins Bild, ist als „Ich mach’s Gegenteil“-Regisseur der Gegenwart geistlos wie ideenarm. Allein gelassen bleiben die in Ganzkörperkondome gezwängten Frauensolisten und die in ältere Wiener Kutschfahrermontur gewrackten Männer auf ihr Repertoire und ihre Präsenz verwiesen (Kostüme: Bernd Skodzig). Der häufig verlangte Ortswechsel setzt dem Raum offensichtlich nur statuarisch Denken könnenden isländischen Projektkünstler Olafur Eliasson vollkommene Grenzen. Sein „Raumkonzept“ ist einfach langweilig. Der Schlussapplaus war entsprechend mau.

Die Partien indessen sind hochformatig besetzt: Maria Ricarda Wesseling gibt der Phaedra lebendigen Ausdruck und Kontur. John Mark Ainsley, dem die Tenor-Partie des Hippolyt in die Kehle geschrieben wurde, elektrisiert in seinen Ariosi. Eine deklamatorische Ohrenweide ist Marlies Petersen (Aphrodite). Dagegen schrill: Axel Köhler (Artemis). Und am Schluss der überhaupt nicht zu erkennende (und auch kann das Rumschunkeln kaum Tanz genannt werden) artikulationsschwache Bass-Bariton Lauri Vasar als Minotaurus.

Eine hinsichtlich der Vokalpartien der Artemis, Phaedra und Aphrodite und der dünneren Szenen 2/1+2 dringlichst, soweit Physis das zulässt, nachsetzungspflichtige Kammeroper von deutlich überzeitlichem Format und Inhalt, die trotz der ungünstigen Kontextbedingungen in Berlin eine enorme Anziehung und einen lebensbejahenden Elan vital zu vermitteln versteht, wie wenige zeitgenössische Kompositionen.


Wolfgang Hoops - 11. September 2007
ID 3444
PHAEDRA (Staatsoper Unter den Linden, 06.09.2007)
Musikalische Leitung: Michael Boder
Inszenierung: Peter Mussbach
Raum: Olafur Eliasson
Kostüme: Bernd Skodzig
Licht: Olaf Freese
Mit: Maria Riccarda Wesseling (Phaedra), Marlis Petersen (Aphrodite), John Mark Ainsley (Hippolyt), Axel Köhler (Artemis) und Lauri Vasar (Minotauros)
Ensemble Modern
Uraufführung war am 6. September 2007.

Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsoper-berlin.de





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