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La môme Piaf – fünfzig Jahre Legende



Édith Piaf 1951: La P’tite Lili (Théatre ABC, Paris) - Foto (C) J. B. Arrieu Albertini | Bildquelle: Wikipedia



Am 11. Oktober ist es fünfzig Jahre her, dass der große Star des französischen Chansons, Edith Piaf, im Alter von nur 47 Jahren starb. Das heißt: eigentlich wäre der Jahrestag schon am 10. Oktober, hätte man nicht den Totenschein auf den 11. Oktober ausgestellt, damit die sterblichen Überreste der großen Chansonnière noch aus der Provence nach Paris transportiert werden konnten, wo Edith Piaf dann auch offiziell versterben durfte – eine Pariser Legende stirbt nicht in der Provinz.

Bis zu ihrem Tod 1963 hatte Edith Piaf mehr als 200 Chansons aufgenommen – und gerne hätte man gewusst, wohin das Ausnahmetalent, das über zwei Jahrzehnte das französische Chanson maßgeblich geformt und dominiert hat, sich musikalisch später entwickelt hätte. Welche Chansons hätte sie der Welt noch hinterlassen? Ich würde viel darauf verwetten, dass auf diese Frage die meisten als erstes antworten würden: Liebeslieder! Denn leider bleibt Edith Piaf auch in der freundlichsten und kenntnisreichsten Reportage meist vor allem eines: die Sängerin von Chansons über die Sehnsucht und die Liebe – und die Sehnsucht nach der Liebe. Ganz falsch ist das freilich nicht. In der Tat ist die Liebe eines der häufigsten Themen ihrer Chansons. Allerdings: wenn man sich für das Urteil über die Künstlerin und ihr Werk einmal jenseits von Milord, Non, je ne regrette rien und La vie en rose umtut – vielleicht wird man doch noch fündig auf der Suche nach anderen Themen? Ja, man wird. Aber wie kamen wir überhaupt zu diesem einseitigen Bild?



Das „Produkt“ Edith Piaf



Fünfzig Jahre historische Distanz sind genug, um sich Edith Piaf einmal aus eher kulturhistorischer Perspektive zu widmen. Auf dem Verso der Hülle einer DDR-Pressung ihrer größten Hits schrieb Henryk Keisch einen kurzen Text über die Künstlerin Edith Piaf. Henryk Keisch mag heute den meisten kein Begriff mehr sein, war aber ein bekannter Schriftsteller und Drehbuchautor in der DDR, in die er aus politischer Überzeugung nach dem Krieg emigrierte. Keisch schrieb auf besagtem Plattentext über Edith Piaf: „Kein Zweifel, Edith Piaf, dieses mit außergewöhnlichem Gefühlsreichtum begabte Kind des Volkes, wäre wohl fähig gewesen, in sich auch den Geistesreichtum auszubilden, der aus ihr eine wahre Volkssängerin gemacht hätte.“ Doch leider, so Keisch, kam es soweit nicht, und „[m]an lenkte ihr großes Talent ins kommerzielle Fahrwasser.“

Der geneigte Leser fragt sich vielleicht, warum hier die Worte eines vor knapp 30 Jahren verstorbenen sozialistischen Schriftstellers für einen aktuellen Blick auf Edith Piaf bemüht werden – ganz einfach: Was Keisch vielleicht zuerst erkannte oder jedenfalls in diesem Text pointiert, obschon in manchmal etwas überzogener Bildlichkeit, artikulierte, ist, dass Edith Piaf ein "Produkt" ist, und zwar eines, das zunächst primär für den Geschmack des zahlungskräftigen bürgerlichen Pariser Publikums gemacht war. Ihr Entdecker Louis Leplée entdeckte zuerst das große Potential, das darin steckte, aus Edith Giovanna Gassion keine feine Dame machen zu wollen, sondern sie gewissermaßen, im „Naturzustand“ belassen, dem Pariser Publikum vorzusetzen. In der Kombination aus ihrem einmaligen Gesangstalent und dem Eindruck anrührender Armseligkeit, den das Geschöpf auf der Bühne erweckte, lag ihr Weg zum Erfolg – ein bisschen wie eine freak show der Armut. Ein armes Kind, das sich die Seele aus dem Leib singt auf der Suche nach der großen Liebe – dieses Image, kreiert von Leplée, blieb Piafs Markenzeichen. Zwar wurde aus la môme Piaf später Edith Piaf, die dann im schlichten kleinen Schwarzen auftrat und nicht mehr in, wie Keisch so hübsch schreibt, „pittoresken, vom Kostümschneider künstlich konservierten Zigeunerplünnen“ – doch kreiert, verbreitet, erhalten wurden Legenden, die dem Produkt, dem Gesamtkunstwerk „Frau aus der Gosse auf der ewigen Suche nach Liebe“ entsprachen. Bis heute werden sie, weitgehend unhinterfragt, zu allen Anlässen brav perpetuiert. Natürlich ist daran auch ein Anteil Wahrheit. Doch ein Kulturprodukt, das einen bestimmten Markt bediente (und bedient), ist es dennoch.




AMIGA-Plattencover aus dem Jahr 1967



Keisch hätte Edith Piaf gerne eine Volkssängerin genannt, doch hinderte ihn daran „ein Mangel von entscheidendem Gewicht“. Dass Edith Piaf seinen Vorstellungen einer Volkssängerin nicht entsprach, ist begreiflich, zu groß war unter anderem ihr (vergebliches) Begehren, ihre Wurzeln hinter sich zu lassen – auch, indem sie keinen Luxus ausließ, obgleich sie am Ende oft wenig damit anfangen konnte. Auch das Politische ging ihr ab. Im Zweiten Weltkrieg half sie Juden und Widerständlern, aber nicht aus politischen Motiven, sondern aus Mitgefühl. Dass das nicht den Anspruch an eine Volkssängerin im sozialistischen Sinne erfüllen kann, ist klar, muss uns aber wenig bekümmern: Edith Piaf war eine Volkssängerin in dem Sinne, dass sie aus dem Volk kam und im wesentlich das getan hat und davon gesungen hat, was das Volk so tut und bewegt. Und das macht sie, jenseits beeindruckender musikalischer Leistungen, kulturhistorisch interessant.



Das Werk abseits ausgetretener Pfade: poetisch und kulturhistorisch ein Fundus



Auch Keisch endet mit dem Urteil, Edith Piafs Repertoire sei einseitig gewesen, habe „bis zuletzt eine bedenkliche Neigung zum Abkippen ins Sentimenale und Pseudopoetische“ gezeigt. Darin ist er sich im Kern mit den meisten Bewunderern, Kritikern, Kommentatoren und Biographen einig, auch wenn diese vielleicht ebendiesen Sachverhalt in einem positiveren Licht geschildert haben oder hätten. Ganz gerecht ist dieses Urteil nicht. Das gesamte Opus an Chansons bildet natürlich ohnehin, ganz unfreiwillig, aus heutiger Perspektive ein beeindruckendes und breites Portrait seiner Entstehungszeit. Die Bedeutung des Schaustellerlebens und dessen Romantisierung etwa, aber auch den Stellenwert der Schifffahrt, der sich in der Häufigkeit der Seemannsmotivik spiegelt, kann man daran ablesen. Wunderschön, obwohl gänzlich unbekannt, ist zum Beispiel das nur gut 1:30 Minuten lange Stück Les neiges de Finlande, in dem das lyrische Ich Weihnachten auf seinem Dachspeicher im ärmlichen Pariser Vorort Aubervilliers davon träumt, wie ihr Traum auf der Schulter eines Seemanns mitreist:


"Mon rêve a fait de beaux voyages
et m´en rapporte des cadeaux
entre les mains de mes nuages
il met le ciel de Bornéo.
[…]
Alors je dors sur des légendes
et je peux voir de mon grenier
tomber les neiges de Finlande
sur les Noëls d´Aubervilliers..."


*
["Mein Traum unternahm wunderbare Reisen
und brachte mir Geschenke mit nach Haus‘
In die Hände meiner Wolken
legt er den Himmel Borneos.
[…]
Und über Legenden schlafe ich also ein
und sehe von meinem Dachboden aus
den finnischen Schnee
auf das weihnachtliche Aubervilliers fallen…"
]

Übersetzung: Ann-Kristin Iwersen



Vor allem fällt auf: um Liebe geht es hier nicht – es geht um Träume, um Phantasie, um Romantisierung des Seemannslebens, um die Tristesse armer, grauer Vororte. Auch in den zum Teil durchaus gesellschaftskritischen Stücken wie L’opinion publique, in dem die wechselhafte Urteilsbildung der öffentlichen Meinung auf bloßes Hörensagen hin thematisiert wird, oder auch dem relativ frühen Chanson Qu’as-tu fait John?, in dem es um die Rassenproblematik in den Südstaaten der USA geht – und zwar bemerkenswert offen kritisch –, ist Liebe nicht das prominente Thema. Margaret hat John, einen farbigen Landarbeiter, der Vergewaltigung beschuldigt, wofür dieser von der aufgebrachten Menge sofort zum Sheriff gebracht und gehängt wird. Des Nächtens plagt Margaret dann doch etwas das schlechte Gewissen, und sie weckt den Sheriff, um sich selbst anzuzeigen – sie war es gewesen, die John Avancen gemacht hatte, aber zurückgewiesen worden war. Der Sheriff zeigt sich dann auch gebührend wütend, allerdings mehr ob der nächtlichen Störung:


"Le sheriff est en colère:
‘Oh, que d'histoires pour un noir!
Allons, faut pas vous en faire –
bonsoir, Margaret, bonsoir…!’"


*
["Der Sheriff ist wütend:
‚Oh, was für ein Aufstand für einen Schwarzen!
Komm‘, mach‘ Dir nichts draus –
gute Nacht, Margaret, gute Nacht…!‘"
]

Übersetzung: Ann-Kristin Iwersen




Dies sind nur einige Beispiele für Lieder aus der Vielfalt an Chansons, die teils kritisch sind, teils komisch, die interessante Geschichten poetisch gekonnt erzählen und von Edith Piaf grandios interpretiert werden. Ihr Werk hat viel über ihre Zeit und das alltägliche Leben in dieser Zeit, über Werte, zentrale Themen, über die geredet wurde, zu sagen – es ist ein Stück Kulturgeschichte.

Und übrigens, das soll nicht unterwähnt bleiben, gibt es auch Liebes, die poetisch weit wertvoller sind als die altbekannten Gassenhauer – Quand tu dors etwa, dessen Text aus der Feder von Jacques Prévert stammt. Alles in allem sollte uns dieser Jahrestag nun endlich einmal dazu Anlass geben, Edith Piafs Gesamtwerk in seiner Breite und Tiefe zu würdigen und seine unbekannteren Seiten zu erkunden. Es lohnt sich.




Edith Piaf - Foto (C) Rex features | Bildquelle: theguardian.com


Ann-Kristin Iwersen - 10. Oktober 2013
ID 7246

Post an Dr. Ann-Kristin Iwersen



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