Zwischen
revolutionärer
Idee und
flacher Show
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Programmheft-Cover von Jesus Christ Superstar, einer Produktion der Komischen Oper Berlin, 2025
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Bewertung:
Als sich Ende der 1960er Jahre der junge Komponist Andrew Lloyd Webber und der nur vier Jahre ältere Texter Tim Rice zusammentaten, waren sie zwei weitgehend unbekannte Talente mit großen Ambitionen. Beide verband eine gemeinsame Idee: Musik sollte nicht nur unterhalten, sondern Geschichten erzählen, Denkgewohnheiten infragestellen und Emotionen auslösen. Nach ihrem ersten kleineren Erfolg mit Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat wollten sie sich an ein Thema wagen, das größer und riskanter kaum sein konnte – die letzten Tage im Leben von Jesus Christus.
Was zunächst wie eine absurde Idee wirkte, wurde schnell zu einem kreativen Plan: Webber und Rice wollten die biblische Passionsgeschichte nicht aus der gewohnten religiösen Perspektive erzählen, sondern aus der Sicht des Verräters Judas Iskariot. Dieser radikale Perspektivwechsel machte die Figuren komplexer und menschlicher: Jesus erscheint nicht nur als göttlicher Erlöser, sondern auch als Mensch mit Zweifeln und Ängsten. Judas ist nicht einfach der Bösewicht, sondern jemand, der im Spannungsfeld zwischen Loyalität, Idealismus und Enttäuschung steht.
Damit gingen die beiden junge Künstler ein enormes Risiko ein. Sie kombinierten eine der zentralsten Erzählungen des Christentums mit einer damals revolutionären Kunstform: der Rockoper. In einer Zeit, in der Rockmusik noch als rebellisch und gesellschaftskritisch galt, schufen sie ein Werk, das Popkultur und Religion miteinander verband – nicht spöttisch oder respektlos, sondern als Versuch, eine vertraute Geschichte mit den Ausdrucksmitteln der Gegenwart neu zu erzählen.
Doch genau dieser Mut führte zunächst dazu, dass kein Theater bereit war, das Stück aufzuführen. Zu provokant erschien die Idee, Jesus als emotionalen Menschen zu zeigen oder Judas Verständnis entgegenzubringen. Webber und Rice reagierten mit einer ebenso kreativen wie strategischen Lösung: Sie beschlossen, die Musik zunächst als Konzeptalbum zu veröffentlichen. 1970 erschien Jesus Christ Superstar als Doppel-LP – komplett durchkomponiert, von einer Rockband gespielt und mit einer großen Bandbreite an musikalischen Stilen.
Das Konzept funktionierte. Die Platte wurde ein Überraschungserfolg, insbesondere in den USA, wo Songs wie "Superstar" oder "I Don’t Know How to Love Him" im Radio liefen und ein breites Publikum erreichten. Der Erfolg des Albums ebnete den Weg für eine Bühnenproduktion, die 1971 schließlich am Broadway Premiere feierte.
Mit dem Erfolg kamen jedoch auch heftige Kontroversen. Kirchenvertreter in den USA und Europa kritisierten das Werk scharf: Es sei blasphemisch, Jesus als zweifelnden Menschen darzustellen, und respektlos, Judas Verständnis entgegenzubringen. Einige Gruppen protestierten vor den Theatern, und einzelne Radiostationen weigerten sich Lieder aus dem Album zu spielen. Besonders die Entscheidung, die Geschichte nicht mit der Auferstehung, sondern mit dem Tod Jesu enden zu lassen, stieß auf Ablehnung – viele empfanden das Werk dadurch als „unvollständig“ oder „zu menschlich“.
Doch gerade diese Kontroversen machten Jesus Christ Superstar zu einem kulturellen Wendepunkt. Webber und Rice hatten gezeigt, dass Kunst auch große, heilige Themen neu denken darf – und dass eine kreative, respektvolle Auseinandersetzung mit Religion nicht respektlos, sondern tiefgründig sein kann. Ihr Werk traf einen Nerv: eine junge Generation, die auf der Suche nach neuen Zugängen zu alten Geschichten war und in Rockmusik, Theater und Spiritualität neue Ausdrucksformen fand.
Heute gilt Jesus Christ Superstar als Klassiker des Musiktheaters – nicht nur wegen seiner eingängigen Musik, sondern vor allem wegen der visionären Idee dahinter: zwei junge, noch unbekannte Künstler, die mit Mut, Originalität und kluger Strategie eine Brücke zwischen Tradition und Moderne schlugen. Sie bewiesen, dass Kunst dort am stärksten ist, wo sie wagt, Grenzen zu überschreiten – und dass selbst eine über 2.000 Jahre alte Geschichte durch jugendliche Kreativität neu erzählt werden kann.
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Welch toller Ansatz, welch großartige Entstehungsgeschichte steckt also hinter dieser Rockoper! Es ging darum, kontroverse Debatten auszulösen, Kulturformen zu vermischen und zeitgenössische Entwicklungen – wie die damals noch junge Form der Rockoper – mit den großen Themen der Menschheitsgeschichte zu verbinden. Genau diese Spannung aus Provokation, künstlerischem Mut und emotionaler Tiefe hat Jesus Christ Superstar zu einem Werk gemacht, das bis heute relevant und faszinierend ist.
Doch was inszeniert Andreas Homoki heute im Hangar in Tempelhof? Wer sich auf eine moderne Neuinterpretation dieses revolutionären Werks freut, wird enttäuscht. Man erwartet eine vielschichtige, emotionale Inszenierung – stattdessen bekommt man eine kitschig aufgeladene Show. Jesus mit langen Haaren, Judas ebenso, zwei muskelbepackte Männer (Ryan Vona & Ryan Shaw), die oft in ihre Mikrofone schreien, sodass Sprache, Klang und die Schönheit der Musik völlig verloren gehen.
Die Inszenierung bleibt statisch: In der Mitte eine Bühne (Philipp Stölzl), auf der ab und zu ein beleuchtetes Kreuz hoch- und herunterfährt. Am Ende des Raums eine Empore mit den Musikern. Das klassische Orchester (Orchester der Komischen Oper Berlin) ist rechts und links angeordnet, zentral die Rockband – allerdings in grellbunten Kostümen und Perücken, die mit dem ansonsten historisch anmutenden Bühnenbild überhaupt nicht harmonieren. Rund 300 Mitwirkende singen und tanzen (Choeografie: Sommer Ulrickon) die anderthalb Stunden lang, gekleidet in einer Art „Bettlertracht“ (Kostüme: Frank Wilde) wie zur Zeit Jesu.
Man fragt sich unweigerlich: Was soll das? Gehört das, was man hier sieht, nicht eher auf die Bühne des Friedrichstadtpalasts als in eine Auseinandersetzung mit einem der bedeutendsten Werke des modernen Musiktheaters? Die kulturelle Tiefe, die ursprüngliche Provokation und der künstlerische Anspruch der Rockoper scheinen hier keine Rolle zu spielen.
Das Publikum sitzt wie in einer Arena und jubelt, wenn Effekte auftreten: Rauch auf der Bühne, eine Papierschnitzelkanone oder wenn Jesus seine Stimme in schwindelerregende Höhen schraubt. All das sorgt für Applaus und Begeisterung – doch mit dem Geist des Stücks hat es wenig zu tun.
Ich selbst verlasse die Aufführung mit vielen Fragen – Fragen nach dem Verhältnis von E- und U-Musik, nach künstlerischer Verantwortung, nach der Tiefe, die Musiktheater haben kann. Bin ich zu kritisch? Warum kann ich mich nicht auf diese Inszenierung einlassen?
Die ehrliche Antwort lautet: Es liegt nicht am Stück. Jesus Christ Superstar bleibt ein Meilenstein der Musikgeschichte. Doch diese Inszenierung ist oberflächlich, laut und kitschig – und genau das ist leider das Fazit dieses Abends.
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Jesus Christ Superstar an der Komischen Oper Berlin | (C) Jan Windszus Photography
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Steffen Kühn - 4. Oktober 2025 ID 15496
JESUS CHRIST SUPERSTAR (Flughafen Tempelhof, Hangar 4 - 02.10.2025)
Musikalische Leitung: Koen Schoots
Inszenierung: Andreas Homoki
Bühnenbild: Philipp Stölzl
Kostüme: Frank Wilde
Choreografie: Sommer Ulrickson
Dramaturgie: Daniel Andrés Eberhard
Chöre: David Cavelius
Licht: Olaf Freese/Florian Schmitt
Sounddesign: Holger Schwark
Besetzung:
Jesus von Nazareth ... Ryan Vona
Judas Ischariot ... Ryan Shaw
Maria Magdalena ... Ilay Bal Arslan
Pontius Pilatus ... Kevin(a) Taylor
Kajaphas ... Daniel Dodd-Ellis
Hannas ... Michael Nigro
Petrus ... Oedo Kuipers
Simon Zelotes ... Dante Sáenz
Herodes ... Jogi Kaiser
u.v.a.
Komparserie [300 Mitwirkende!]
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin
Orchester der Komischen Oper Berlin nebst Rock-Band
Premiere an der Komischen Oper Berlin: 2. Oktober 2025
Weitere Termine: 05.-09.10.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.komische-oper-berlin.de
Post an Steffen Kühn
http://www.hofklang.de
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