Ballettoper
von Rameau,
inszeniert
mit Hip-Hop-
Ästhetik
LES INDES GALANTES im Teatro Real Madrid
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Cover Programmheft | (C) Teatro Real Madrid
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Bewertung:
Für die Pariser Oper adaptierte der Videokünstler Clément Cogitore 2017 - in Zusammenarbeit mit dem Pariser Hip-Hop-Star Bintou Dembélé - das Musikfragment „Friedliche Wälder“ aus Rameaus Ballettoper Les Indes Galantes in einem Kurzfilm. Dieser ging schnell viral. Dembélé bekam daraufhin den Auftrag, das komplette Werk in der Opéra Bastille zu inszenieren - 2019 wurde sie mit großem Erfolg erstaufgeführt.
Ende Mai d.J. wanderte dieses Projekt - leicht gekürzt - für vier Abenden von Paris ins TEATRO REAL nach Madrid, ebenfalls mit großem Erfolg und vor vollem Haus. Es war das erste Mal überhaupt, dass Rameaus Les Indes Galantes dort zu erleben war.
Diese Aufführung ist nichts für Puristen! Anfangs herrscht Verwirrung. Tänzer und Sänger laufen über die Bühne, nicht immer mit Grund. Der Orchestergraben ist abgedeckt. Die Musiker sitzen in drei Blöcken auf der transparenten Bühne, zu denen der Dirigent García Alarcón nacheinander und barfuß pilgert, bis er sich dann an sein Cembalo setzt.
Die erste Arie der Hebe kommt aus der königlichen Loge. Wir hören eine Stimme, sehen aber niemanden. Dann entdecken wir die Bildschirme an beiden Seiten und verstehen. Auch neben uns tauchen ständig Menschen auf und verschwinden wieder. Irgendwann singen sie, und erst dann wird uns bewusst, dass es sich nicht um Besucher mit einem schlechten Platz handelt. Nach und nach nehmen die Sänger und Tänzer das ganze Theater ein: Balkone, Gänge, Logen, Parkett. Alles wird zum Bühnenschauplatz, und überall passiert etwas.
Der Raum vor den Musikern repräsentiert einen Migranten-Hotspot. Sie tanzen auf einem Vulkan kurz vor dessem Ausbruch, sie sind der Vulkan. Sie tragen Kleidung, die ihnen nicht gehört, nicht richtig passt, Decken, Lumpen, dunkel, trist. Sie sind wütend, verzweifelt, voller Energie. Die Metropole, ein lebender und vibrierender Körper. Hartes Straßenleben findet Einzug in den ruhigen Ort einer Oper – es funktioniert. Über der Bühne hängt ein riesiger Lichtring. Ein Raumschiff oder die Sonne mit 12 Satelliten, die uns manchmal kaltes Licht ins Gesicht schleudern. Alles dreht sich im Kreis, trennt sich, findet sich. Die rituellen Bewegungen assoziieren Bilder aus den Großstädten, aus den Nachrichten. Rameaus dynamisch-eckige Musik passt sich perfekt der Hip-Hop- und Breakdance Ästhetik an. Dabei kann man Dembélés Ballett nicht als "zeitgenössisch" bezeichnen, dazu sind die Bewegungen zu intuitiv, zu primordial. Die komplette Aufführung strotzt vor Kraft.
Am Ende des vierten Aufzugs, in den Wäldern der Neuen Welt, findet die Geschichte ihren Höhepunkt, der mit einer Auseinandersetzung zwischen französisch-spanischen Truppen und wilden Indianern beginnt und friedlich endet. Spanien und Frankreich zählten zu den größten Kolonialmächten bis weit in das 19. Jahrhundert, aber Rameau sehnte sich nach Ruhe. Die bekannte Friedenstanzszene "Forêts paisibles“ (dt.: "Friedliche Wälder") ist berauschend und kann besser nicht sein. So müssen sich die Premierenzuuschauer bei Strawinskis Frühlingsopfer gefühlt haben (falls sie nicht zu denen gehörten, die es torpedierend ablehnten).
Was die Handlung angeht, die ist Nebensache. Es ist nicht wichtig, wer wo was sagt oder tut. Wir wissen, es sind vier Ballett-Akte: "Der großzügige Türke", "Die Inkas von Peru", "Die Blumen" und "Die Wilden". 16 Rollen werden von vier Sängern und Sängerinnen gesungen, die sich aber physisch nicht ihren Rollen annähern, sondern immer gleich aussehen: Julie Roset, Ana Quintáns, Mathias Vidal, Andreas Wolf haben sich gut durch diesen choreografischen Konzeptabend, diese Fusion von Tanz und Musik geschlagen.
Und Rameaus Musik? Sie nimmt die ruckartigen, gequälten und manchmal gewöhnungsbedürftigen Bewegungen der Tänzer bereitwillig auf, schafft jegliche Distanz zwischen Solisten, Musikern und Tänzern ab. Dembélé Streben geht auf, diese energiegeladene Musik in eine pulsierende, urbane, westliche Metropole zu verlegen und Körper, Seele und Geist implodieren zu lassen. Die Zusammenarbeit von Choeur de Chambre de Namur, Cappella Mediterranea, Structure Rualité sowie den vier Sängerinnen und Sängern ist perfekt. Vielleicht war es (musikalisch gesehen) ein Risiko, die Musiker so weit hinten auf der Bühne zu platzieren. Barockmusik braucht sonst mehr Intimität.
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Wer letztendlich den meisten Applaus bekam, ist gar nicht zu sagen. Das Madrider Publikum war begeistert und hatte sich schlussendlich die komplette letzte Szene ("Fôret paisible") als Zugabe herbeigeklatscht.
Unvergessliches Erlebnis allemal!
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Bildquelle: teatroreal.es
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Christa Blenk - 6. Juni 2025 ID 15293
LES INDES GALANTES (Teatro Real Madrid, 01.06.2025)
von Jean-Philippe Rameau
Musikalische Leitung: Leonardo García Alarcón
Regie und Bühne: Bintou Dembélé
Kostüme: Anaïs Durand Munyankindi
Licht: Benjamin Nesme
Dramaturgie: Simon Attab
Besetzung:
Amour/ Phani/ Fatime/ Zima ... Julie Roset
Hébé/ Émilie/ Zaïre/ Atalide... Ana Quintans
Valère/ Don Carlos/ Tacmas/ Damon ... Mathias Vidal
Bellone/ Osman/ Huascar/ Ali/ Don Alvar ... Andreas Wolf
Choeur de Chambre de Namur
Cappella Mediterranea
Structure Rualité
Eine Produktion der Opéra national de Paris
Weitere Infos siehe auch: https://www.teatroreal.es
Post an Christa Blenk
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