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Uraufführung

Die Monu-

mentalität

des Krieges

DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT
von Philippe Manoury


Miljenko Turk in Die letzten Tage der Menschheit an der Oper Köln | Foto (Detailt): Sandra Then

Bewertung:    



Ein Mammutwerk in fünf Akten und 220 Szenen, eigentlich unaufführbar:

Die letzten Tage der Menschheit ist das Hauptwerk des österreichischen Schriftstellers Karl Kraus (1874-1936), geschrieben zwischen 1915 und 1922, also quasi als Zeitzeugenschaft zu seinem Sujet, dem Weg Österreichs in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs.

Nun feierte in der OPER KÖLN das Auftragswerk gleichen Namens Uraufführung, ein Thinkspiel, komponiert von Philippe Manoury, der zusammen mit Dramaturg Patrick Hahn und Regisseur Nicolas Stemann auch für das Libretto verantwortlich zeichnet. Und es kommt ähnlich monumental daher: Im ersten Teil wird in knapp zwei Stunden Karl Kraus’ Text nachgezeichnet, in fünf Akten samt Prolog. Das dicht besetzte Orchester verteilt sich auf drei Tribünen, vor denen sich das Geschehen abspielt, nicht als durchgehende Handlung, sondern vielmehr als einzelne Episoden, die sich zu einem Gesamteindruck fügen. Da sind die Kriegsgewinnler, die kriegsbegeisterten Massen, der Hofbeamte, der mit einer unbekannten Exzellenz telefoniert und einen Kriegsbeginn kurz vor Kriegsbeginn noch kategorisch ausschließt.

Im zweiten Teil stehen dem dann fünf kürzere Tableaus entgegen, die die Handlung bis in die Gegenwart treiben. Das Orchesterpodest in der Mitte ist von einer mehrere Meter hohen Brücke überbaut, auf der teilweise Sängerinnen und Sänger auftreten, hier alle eher in der Anmutung eines Konzerts: mit Notenblättern, im Anzug.

Ist Manourys Komposition im ersten Teil auf die traditionellen Orchesterfarben konzentriert, samt leitmotivischer Verwendung des Englischhorns bei einer bestimmten Figur, wird es im zweiten Teil deutlich elektronischer. Und: Der Frontalklang der ersten Hälfte wandelt sich zu einem Raumklang, einzelne Instrumentengruppen sind hinter den Zuschauenden verteilt. Man sitzt also mittendrin im Klang.

Regisseur Stemann und sein Team treiben den Einsatz von Medien auf die Spitze: von der Zeitung, deren Sonderausgabe von John Heuzenroeder im hellsten Tenor angekündigt wird, über historische Fotoaufnahmen, die auf Leinwände rechts, links und über dem Orchester projiziert werden, bis zu live produzierten Filmaufnahmen und vorproduzierten Videos. Optisch ist das alles sehr beeindruckend, ein wenig störend war allerdings die kleine zeitliche Verzögerung zwischen live gesprochenem Text und der Projektion.

Auch Medienkritik wird thematisiert, die sich bereits bei Karl Kraus findet: Eine Reporterin, in knalligem Lila gekleidet, erscheint auf dem Schlachtfeld und möchte von den erschöpften Soldaten wissen, wie sie sich fühlen. Die Resonanz ist eher schwach, die Selbstinszenierung im Feld umso überzeugender. Schließlich wird ihr, ebenso wie dem Feldgeistlichen, erlaubt, eine Kanone zu zünden, trotz Gefechtspause. Das ist bitter-böse, aber auch komisch, wie das Staatsbegräbnis des Thronfolgers von Österreich, dessen Ermordung letztendlich Auslöser des ersten Weltkriegs wurde. Zunächst soll das Ganze möglichst klein gehalten werden, dann fühlen sich immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Gründen verpflichtet, teilzunehmen. Voller Pomp werden die beiden Särge aufgebahrt. Im weiteren Verlauf der Szene wandelt sich dann das Staatsbegräbnis: vom Holzsarg bis zum Leichensack wird einfach alles nach und nach auf einen Haufen geworfen.

Manches ist berührend, etwa wie Sebastian Bloomberg und Patrycia Ziolkowska, in Matrosenanzüge gewandet und eben noch begeisternd Krieg spielend, von ihrer Mutter in selbigen geschickt werden mit dem unausgesprochenen Auftrag, den Heldentod zu sterben und nicht zurückzukehren. In Uniformen gesteckt rufen, flüstern, fragen sie nach ihrer Mama, aber keiner antwortet.

Und über allem thront ohnmächtig der Angelus Novus, intensiv gesungen und gespielt von Anne Sofie von Otter in ihren wenigen, aber markanten Aufritten. Ein Engel, der vom Sturm des Fortschritts mitgerissen wird und alles nur aus der Rückschau sieht, niemals nach vorne.

*

Die letzten Tage der Menschheit ist nicht weniger als ein Gesamtkunstwerk. Und es passiert vor allem im ersten Teil derartig viel, dass man fast vergisst, auf die Musik zu hören. Manoury, Hahn und Stemann spannen mit ihrem künstlerischen Team einen breiten Bogen vom ersten Weltkrieg im ersten Teil zu Nuklearwaffen und Drohnen der heutigen Kriegsführung im zweiten Teil. Es ist, entgegen der negativen Setzung, von den letzten Tagen der Menschheit erzählen zu wollen, ein Plädoyer für Humanismus und Menschlichkeit, gegen Fatalismus. Bezeichnend dafür die Diskussion, die die beiden Schauspielenden stellvertretend für alle anderen führen: Wie lässt es sich in Frieden leben, wenn jemand anders Krieg möchte? Das ist das Paradoxon, mit dem wir uns derzeit und immer wieder alle beschäftigen müssen. Krieg ist und bleibt offenbar eine menschliche Konstante. Und nicht zuletzt dieses Thema macht Die Letzten Tage der Menschheit zu einer hochgradig relevanten Aufführung, die so ganz nebenbei den Fokus auf zwei herausragende Künstler lenkt: den Autoren Karl Kraus und den Komponisten Philippe Manoury.



Anne Sofie von Otter in Philippe Manourys Die letzten Tage der Menschheit - an der Oper Köln | Foto (C) Sandra Then

Karoline Bendig - 5. Juli 2025
ID 15351
DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT (Staatenhaus, 04.07.2025)
Thinkspiel in zwei Teilen für Sänger:innen, Schauspieler:innen, Chor, Orchester und Live-Elektronik von Philippe Manoury
Libretto nach Karl Kraus von Patrick Hahn, Philippe Manoury und Nicolas Stemann

Musikalische Leitung: Peter Rundel
Inszenierung: Nicolas Stemann
Bühne: Katrin Nottrodt
Kostüme: Tina Kloempken
Mediale Inszenierung: IXA (Claudia Lehmann, Konrad Hempel)
Lichtdesign: Elana Siberski
Klangregie & Live-Elektronik: IRCAM
Chorleitung: Rustam Samedov
Dramaturgie: Patrick Hahn und Stephan Steinmetz
Mit: Anne Sofie von Otter, Emily Hindrichs, Tamara Bounazou, Constanze Rottler, Simge Çiftci, Johanna Thomsen, Christina Daletska, Barbara Ochs, Dmitry Ivanchey, John Heuzenroeder, Armando Elizondo, Miljenko Turk, Lucas Singer, Sebastian Blomberg und Patrycia Ziolkowska
Chor der Oper Köln
Gürzenich-Orchester Köln
UA an der Oper Köln: 27. Juni 2025
Weitere Termine: 06., 09.07.2025
Koproduktion mit IRCAM Centre Pompidou


Weitere Infos siehe auch: https://www.oper.koeln


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Musiktheater (Premieren)

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