Festival d’Aix-en-Provence 2025
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Konzeptkunst ohne
dramatische
Erfüllung
THE NINE JEWELLED DEER
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Bewertung:
Mit The Nine Jewelled Deer präsentierten das Festival d’Aix-en-Provence und ein prominentes Kreativteam eine neue Produktion, die sich als hybride Form zwischen elektroakustischer Komposition, lyrischer Meditation und symbolischer Ritualkunst versteht. Die Akteure (Regie: Peter Sellars) entwickelten eine Interpretation eines buddhistischen Jataka-Märchens, das für universelle Werte wie Mitgefühl und Vergebung steht. Doch das ambitionierte Konzept blieb in der Aufführung weit hinter seinem Potenzial zurück.
Auf der Bühne von Julie Mehretu befand sich eine transluzente Projektionsfläche für Untertitel und Lichteffekte, ergänzt durch wechselnde Farb- und Lichtstimmungen. Die Sängerinnen und Musiker – unter ihnen Großmutter und Enkelin, zentral für die Handlung – befanden sich permanent sichtbar auf der Bühne, gekleidet in einfache indische Alltagsgewänder. Ihre Bewegungen und ihr Gesang erinnerten an ein kontemplatives Retreat, weniger an ein theatralisches Geschehen. Die durchweg ruhige, meditative Präsenz wurde nicht gebrochen – weder musikalisch noch szenisch – was zur Folge hatte, dass sich über die gesamte Aufführungsdauer von rund 90 Minuten keinerlei Spannungsbogen entwickelte.
Die Komposition von Sivan Eldar verzichtet bewusst auf klassische Orchestrierung. Stattdessen werden elektroakustische Klänge, digitale Manipulationen, Mikrotöne, Obertöne und live-elektronische Texturen eingesetzt. Ziel war laut der Komponistin ein „dynamischer Klangraum“, in dem sich eine „organische, spirituelle Erfahrung“ entfaltet. Was auf klanglicher Ebene faszinierend gedacht ist, wirkte in der Praxis jedoch weitgehend strukturlos. Musikalisch wie narrativ fehlten klare Orientierungspunkte, motivische Wiedererkennung oder Entwicklung.
Peter Sellars, bekannt für seine präzisen und bildstarken Inszenierungen, setzt auch hier auf Reduktion. Doch anders als in früheren Arbeiten wirkt die szenische Gestaltung diesmal distanziert. Die Bühne bleibt statisch, die Farben ätherisch, die Projektionen unauffällig. Was als kontemplativ intendiert ist, bleibt in der Aufführung seltsam leblos – es fehlt eine Reibung, ein Impuls, ein dramaturgischer Kern.
Aus meiner Sicht blieb der Abend daher eine intellektuelle Übung ohne theatralischen oder emotionalen Ertrag. The Nine-Jewelled Deer versucht Musiktheater neu zu denken – aber in einer Weise, die sich fast vollständig von dem entfernt, was Oper zu einer kollektiven, mitreißenden Erfahrung machen kann. Keine Handlung, keine Spannung, keine Figurenentwicklung – stattdessen individuelle Klang- und Textausschnitte, die sich dem Publikum eher verschließen als es einladen.
Hinzu kommt: Das gewählte Sujet – ein spirituelles Gleichnis aus der buddhistischen Erzähltradition – wird nicht in eine übertragbare Form für das westeuropäische Publikum gebracht. Weder musikalisch noch szenisch gelingt es, eine Brücke zur europäischen Operntradition zu schlagen. Das Thema bleibt isoliert – kulturell wie formal. Vielleicht funktioniert dieses Stück in einem anderen Kontext, als Installation, als spirituelle Performance – aber nicht auf einer Opernbühne mit einem Publikum, das mehr als Klangflächen und Symbolik erwartet.
Diese Form der Kunstproduktion scheint symptomatisch für einen gegenwärtigen Trend: hochgradig subjektiv, hermetisch, selbstreferenziell – mit dem Risiko, in eine asoziale Ästhetik zu kippen, in der kollektive Verständigung, narrative Resonanz und kulturelle Teilhabe keine Rolle mehr spielen.
Was bleibt, ist eine große Enttäuschung. Trotz hoher Ambitionen und zweifellos begabter Beteiligter wurde das Versprechen eines neuen Musiktheaters nicht eingelöst. Es war mehr Konzept als Kunst, mehr Behauptung als Erfahrung.
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The Nine Jewelled Deer - beim Festival d’Aix-en-Provence 2025 | Foto (C) Ruth Walz; Bildquelle: festival-aix.com
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Steffen Kühn - 14. Juli 2025 ID 15364
THE NINE JEWELLED DEER (Théâtre du Jeu de Paume, 13.07.2025)
Musikalische Leitung: Sivan Eldar
Regie: Peter Sellars
Bühne: Julie Mehretu
Kostüme: Camille Assaf
Licht: James F. Ingalls
IRCAM Sound: Luca Bagnoli
Mit: Ganavya Doraiswamy und Aruna Sairam (Gesang), Nurit Stark (Violine), Sonia Wieder-Atherton (Cello), Dana Barak (Klarinette), Hayden Chisholm (Saxophon), Rajna Swaminathan (Schlagzeug) und Augustin Muller (IRCAM Elektronik)
UA in Arles war am 6. Juli 2025.
Weiterere Termine: 14., 16.07.2025
Koproduktion des FESTIVAL D’AIX-EN-PROVENCE mit dem IRCAM Centre Pompidou
Weitere Infos siehe auch: https://festival-aix.com
Post an Steffen Kühn
http://www.hofklang.de
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