„Es hat gefetzt.“
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Thomas Melle mit Moderatorin Simone Scharbert in der WERKSTATT des Theaters Bonn | Foto © Ansgar Skoda
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Auf dem Weg zum Lesungsort überrascht erhöhtes Polizeiaufgebot. Während im ausverkauften Opernhaus die Altkanzlerin aus ihren Memoiren liest, ist am selben Tag auch die WERKSTATT-Bühne mit einem prominenten Gast lange im Vorfeld ausverkauft. Almuth Voß vom Bonner Literaturhaus begrüßt das Publikum mit den Worten, dass Thomas Melle schon lange eingeladen war, bevor er mit seinem Roman Haus zur Sonne auf die Longlist und dann auf die Shortlist für den deutschen Buchpreis gelangte. Melle habe die WERKSTATT als Lesungsort mit ausgewählt, da hier 2016 sein Theaterstück Bilder von uns uraufgeführt wurde, das später auch in Alice Buddebergs sensibler Inszenierung bei den Mülheimer Theatertagen vertreten war.
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Die Moderation des Abends übernimmt die Schriftstellerin Simone Scharbert (promovierte freie Autorin und Dozentin in Erftstadt, frühere Mitarbeiterin der Kölner Stadtrevue).
Haus zur Sonne gilt als Fortsetzung zu Thomas Melles Roman Die Welt im Rücken (2016), in dem der Autor seine bipolare Störung zum Thema macht.
Scharbert beginnt einleitend, dass sie im aktuellen Roman eine andere Dynamik und Perspektive als in Die Welt im Rücken beobachte. Der Ton und die Geschwindigkeit seien sehr unterschiedlich. Der Roman sei auf furiose Weise wesentlich ruhiger, meint Scharbert, da er weniger die Manie betrachte und mehr auf die Depression blicke. Die Ich-Perspektive, die in Die Welt im Rücken fahrig wirke, werde in Haus zur Sonne zuträglicher und weicher, so die Moderatorin. Sie erklärt, dass Melle, der in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin Philosophie und Komparatistik studierte, in seinem jüngsten Roman jedoch auch viel über Grundfragen des Lebens philosophiere.
Der heute 50-jährige Autor wurde in Bonn geboren und lebt seit etwa 30 Jahren in Berlin. Ob er sich nicht auch gerne in seiner Heimat bewege, fragt Scharbert. Melle meint, Berlin sei manchmal ein bisschen aufzehrend, er fühle sich schon auch wohl im Rheinland. Als jemand im Publikum laut klatscht, meint Melle, da freue sich seine in Bonn lebende Tante. Er relativiert jedoch einen Rückkehrwunsch und meint, vielleicht könne er sich vorstellen, nicht wieder in Bonn, sondern vielmehr in Köln zu leben. Er gehört zu den Stammautoren beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, im Publikum sitzt auch seine Lektorin. Vor Haus zu Sonne erschien hier zuletzt Das leichte Leben (2022).
Scharbert leitet das Gespräch damit ein, dass der bereits dreimal für den Deutschen Literaturpreis shortgelistete Autor zunächst als Dramatiker debütiert habe. 2006 wurde so am Theater in Erlangen sein Theaterstück Haus zur Sonne von Eike Hannemann uraufgeführt, das bereits das Sujet seines gleichnamigen Romans (2025) beinhaltet. Es geht um Menschen mit einem Sterbewunsch, die in einer diffus-futuristischen Suizidklinik rund um die Uhr Wellness-Erfahrungen machen und mögliche Glücksversprechen eingelöst bekommen können. Melle betont, dass sich sein gleichnamiges Drama literarisch von seinem fast zwanzig Jahre später entwickelten Roman deutlich abgrenze. Ein Theaterstück bediene literarisch ein anderes Genre. Er habe mit den Jahren ganz anders und mit neuem Blickwinkel auf sein Dramen-Sujet geblickt.
Thomas Melle stimmt Simone Scharbert zu, dass die Innen- und Außenwahrnehmungen der Figuren wesentlich nüchterner oder gedeckelter seien, als in Die Welt im Rücken. Als Autor habe er immer fiktionale Elemente, versuche aber völlig wahr und glaubwürdig zu bleiben, so Melle. Er meint, er könne nur mutmaßen über den Ich-Erzähler, da er ihn ja nicht persönlich kenne. Scharbert schmunzelt über diese Aussage. Melle liest Passagen seines Romans vor, die einen erschütternden Eindruck von der Verzweiflung, Perspektivlosigkeit und Isolation des Ich-Erzählers nach einem manischen Schub vermitteln.
Die beiden Podiumsteilnehmer unterhalten sich über den titelgebenden abstrusen Handlungsort, auf den sich der Ich-Erzähler mit seinem Todeswunsch einlässt. Melle meint, er stelle sich eine sphärische Villa des Realismus oder Brutalismus vor. Scharbert deutet das "Haus zur Sonne" als Sanatorium oder auch Sammelstelle für beschädigte Menschen. Sie stellt den Zuhörern die Frage, was sie sich in so einer Situation an so einem Ort wünschen würden. Melle und Scharbert sind sich einig, dass die Charaktere, denen der Ich-Erzähler begegnet, banale aber auch existentielle Sehnsüchte haben. Es geht ihnen darum, sozial etwas zu erleben, um die Sehnsucht nach Nähe und Begegnung, oder gar um ein Zusammenschmelzen. Es fetzt auch schon einmal ordentlich zwischen ihnen, so Melle.
Das fiktive Setting des Romans betrachtet Scharbert als Dystopie oder Utopie. Melle erklärt, dass die Einrichtung natürlich eine Fehlkonstruktion oder Beta-Version sei, die ihren Teilnehmenden zu einer Art Traumrausch verhelfe. Nach und nach werde eine Zwiespältigkeit des perfiden Zwangssystems deutlich, das Menschen durchaus auch falsch einordne. Bald meldet sich beim Ich-Erzähler ein Urinstinkt des Lebenstrotzes und er plant eine Revolte.
Scharbert hebt hervor, dass Haus zur Sonne moralische Themen wie Fragen der Sterbehilfe, die Gestaltung des eigenen Todes oder schöne Abschiede verhandelt. Melle stimmt ihr zu, dass es für das Figurenpersonal im Roman auch darum gehe, trotz des Sterbewunsches die eigene Würde zu erhalten. Am Ende unterhalten sich beide noch darüber, dass Haus zur Sonne zwar nicht auf Pointe geschrieben ist, aber durchaus eine gute Prise Humor enthält. Dieser Humor war von Melle oftmals so nicht intendiert, er helfe jedoch gegen ein mögliches Pathos.
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Buchcover zu Thomas Melles neuem Roman Haus zur Sonne
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Im Zwiegespräch nach der Lesung frage ich Melle noch, ob er den Gewinner-Roman des diesjährigen Deutschen Buchpreises gelesen habe, Die Holländerinnen. Ja, meint Melle, und Dorothee Elmigers Werk sei durchaus gut. Als ich von eher zwiespältigen Leseerfahrungen mit den mäandernden Expeditionen in Elmigers Prosa berichte, verrät er augenzwinkernd, sein Haus zur Sonne sei deutlich düsterer. Später erfahre ich noch von Almuth Voß, dass die Schweizerin Elmiger Anfang nächsten Jahres auch im Bonner Literaturhaus zu Gast sein wird. Ob dieser Abend dann ähnlich unterhaltsam werden dürfte?
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Ansgar Skoda - 29. Oktober 2025 (2) ID 15536
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