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Roman

Quiet quitting





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„Dankbarkeit in alle Richtungen, ohne wirklichen Grund, nur der Albdruck war leichter geworden, fast verschwunden, die Gründe für seinen Schulwechsel, sie wurden dünner, bleicher, durchsichtig, und die Ichgrenzen wurden überflutet von den neuen Eindrücken überall, an jeder Ecke, in jedem schönen Schatten.“ (Thomas Melle, Das leichte Leben, S. 122)

*

Ganz erfüllt vom Gefühl der Verliebtheit macht sich der Jugendliche Keanu eine positiv-wärmende Atmosphäre der Welt bewusst. Er besucht seit kurzem eine neue Schule und trifft sich mit einer Mitschülerin, in die er verliebt ist. Doch schon bald wendet sich das Blatt, die Mitschülerin und auch andere kehren ihm den Rücken zu, und er gerät in Bedrängnis.

Die Schriftbilder auf dem Buchcover von Das leichte Leben sind in Schräglage; umstürzende Klötze. Sie deuten in aller Beschwingtheit an, dass neben Leichtigkeit auch deutliche Fallhöhen stehen können.

Nach seinem autobiographischen Werk Die Welt im Rücken (2016 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis) legte Thomas Melle einen lange erwarteten neuen Roman vor. Das leichte Leben erzählt aus wechselnden Perspektiven von Hochgefühlen und Abstürzen gleich mehrerer Figuren. Der Roman umkreist Themen wie Intimität und Verlust, Sex und Begehren, Bitterkeit und wachsendes Misstrauen. Zentrale Figuren sind neben Keanu ein beruflich erfolgreiches Paar Mitte vierzig, der TV-Moderator Jan und die Lehrerin Kathrin, die zwei Teenager-Kinder haben, Lale und Severin.

Anfangs steht vor allem Jan im Zentrum des Geschehens. Er wird durch anonym an sein Handy zugesandte Fotos verunsichert und erinnert sich an belastende, grenzüberschreitende Situationen in seiner Kindheit und Jugend. Bei ihm, der gerade neue Erfolge auf der Arbeit feiert, lösen die lang verdrängte Erinnerungen Irritation und Unsicherheit aus. Es fällt ihm schwer, mit seiner Frau Kathrin über seine Gefühle zu sprechen.

Einmal erhält er ein halbnacktes Kinderfoto, während er Auto fährt. Er baut beinahe einen Unfall. Eine aufgebrachte Passantin stürmt auf ihn zu. Die Grundschullehrerin sieht ihre am Wegrand postierte Schulklasse durch den sichtlich unaufmerksamen Verkehrsteilnehmer gefährdet und redet wütend auf ihn ein. Als sie bemerkt, dass er weiterhin auf sein Mobilfunkgerät starrt, entreißt sie es ihm und schaut selbst auf das Display. Sie knallt ihm spontan ihre eigenen Gedanken hinsichtlich des ihr „seltsam“ erscheinenden Bildes vor den Kopf und reagiert überrascht, als er behauptet, selbst der Fotografierte zu sein. Existentielle Gedanken zur Selbst- und Fremdwahrnehmung werden hier pointiert in Worte gefasst.

Thomas Melle hat Motive und auch diese Situation bereits in seinem Drama Bilder von uns verarbeitet. Er erzählt in beiden Werken eine Geschichte, die von Missbrauchsvorfällen im Bad Godesberger Aloisiuskolleg, an dem er selbst Schüler war, inspiriert ist.

Jan macht sich fortan Gedanken über die Herkunft des möglichen Nachrichtenabsenders. Melle versteht es, komplexe Gedankenwelten spannend zu beschreiben. Mehr noch als Lale und Severin nimmt der Jugendliche Keanu eine Erzählperspektive in verschiedenen Kapiteln ein. Er geht bald als Freund der Kinder im Haus der Familie ein und aus. Sowohl Kathrin als auch Lale verlieben sich in den schönen Jüngling. Jan betrachtet bald Keanu als möglichen Gegenspieler und vielleicht sogar als anonymen Erpresser. Doch auch Keanu hat selbst einen eigenwilligen Blick auf die Welt. Keanu genießt das Gefühl Außenseiter in der Gesellschaft zu sein. Er nimmt Jan und andere Mitmenschen als Opfer war und möchte sich von ihnen abheben:


„Ja, es war offensichtlich, woran diese Welt krankte, es war so augenfällig, man musste sie eben nur öffnen, die Augen. Die Wahrheit war doch sichtbar. Manchmal fragte Keanu sich, ob er wirklich hellsichtiger als die anderen war, oder doch nur aufmerksamer, oder skeptischer, oder interessierter – und waren das alles nicht nur verschiedene Begriffe für ein und dieselbe Eigenschaft? Eine Art von Wachheit, die ihn von all den Schlafenden um ihn herum unterschied; von den Schlafenden, die paradoxerweise ihn wahrscheinlich als »Schläfer« bezeichnen würden. Sie gingen täglich und in Massen an ihm vorbei, die Glaubensopfer, die Konsumopfer, die Alkoholopfer, die Modeopfer, all die versammelten Opfer der Verblendung, betäubt von Rausch, Rummel und Ramadan, und sahen nichts, spürten nichts, sie waren stumpf und vergiftet. Es schmerzte ihn oft, seine Mitmenschen so zu sehen. Es schmerzte ihn, ständig zwischen Mitleid und Verachtung schwanken zu müssen, wobei – zugegeben – die Verachtung meist überwog. Ja, meist verachtete er diese Opfer. Eigentlich immer. Das Mitleid redete er sich nur ein. Oder wie verhielt sich das?“ (S. 131)


Ansgar Skoda - 1. März 2023
ID 14075
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