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Schnee auf

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heißen

Brotwecken



H.C. Artmann um 1980 im Vomper Loch | Foto (C) Gert Chesi; Bildquelle: Wikipedia


Alles ist relativ. Wer Literatur daran misst, wie sehr sie den Leser in Spannung versetzt, wie nahe sie der außerliterarischen Wirklichkeit kommt, wird zu anderen Ergebnissen gelangen als jemand, der Literatur als Erschaffung einer eigenen Welt aus Wörtern begreift. Wer sprachliche Virtuosität höher schätzt als nacherzählbares Geschehen, wird die Überzeugung teilen, dass H.C. Artmann einer der größten, wenn auch fast vergessenen unter den deutschsprachigen Schriftstellern und Poeten des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Milan Kundera hat einmal darauf hingewiesen: „Man ist nicht verpflichtet, Tatsa­ chen so zu beschreiben, wie sie in Wirklich­ keit sind.“ Artmanns Material ist die Literatur, nicht die Welt, wie wir sie „in Wirklichkeit“ sehen, zu sehen meinen. Der inflationär gebrauchte literaturwissenschaftliche Begriff „Intertextualität“ – nirgends beschreibt er den Gesichtspunkt, unter dem Literatur nicht nur zu interpretieren wäre, sondern von vornherein produziert wurde, genauer als bei Artmann, und zwar vom Anfang seiner schriftstellerischen Karriere an.

Seinen Durchbruch verdankte Artmann einem Missverständnis. Dass er seinen Gedichtband med ana schwoazzn dintn 1958 im Wiener Dialekt, genauer: im Dialekt des Wiener Stadtteils Breitensee, in dem er 1921 geboren wurde, verfasst hat, verleitete oberflächliche Leser zur Annahme, da sei ein Nachfolger von Josef Weinheber und einer gemütlichen Heurigenseligkeit zu entdecken. In Wahrheit handelt es sich um höchst poetische, dem Surrealismus verpflichtete Gedichte, die den Wiener Dialekt lediglich als verfremdendes Sprachmaterial benützen, für das Artmann übrigens seine eigene phoneti­sche Schreibweise erfand.

In den sechziger Jahren wurde Artmann neben Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener zur Wiener Gruppe gerechnet, mit der ihn das Interesse für Sprachexperimente und frühe Aktionen im Stile der Happenings verbanden. Aber Artmanns Versuche sprengten den Rahmen, den diese Gruppe vorgab. Lustvoll spielt er mit überlieferten Genres und Stoffen, mit Erzählkonventionen und Stileigentümlichkeiten. Tri­viales und Plebejisches geraten ihm ebenso zum literari­schen Arte­fakt wie Barockes und Höfisches. Der Klang der Sprache ist ihm ebenso assoziativer Anlass wie die Wortbedeutung idiomatischer Wendungen oder die Aura mythischer Figuren. Artmann ist einer der Väter der konkreten Dichtung und zugleich doch ein begnadeter Erzähler, vorausge­setzt, man fragt nicht nach dem Sinn von Erzählen und Erzähltem. Der Vorgang ist wichtiger als das Produkt, die Schön­heit liegt in der Abwesenheit von Nützlichkeit.

Artmanns Texte holen das Spielerische in die Kunst zurück, frei lich mit Material, das sich Artmann aus den entlegensten Winkeln der Weltliteratur zusammengesucht hat. Es gehört zu seinen Überzeugungen, dass es, jenseits vom Geschriebenen, so etwas gibt wie eine poetische Existenz in der Nachbarschaft des Dandyismus, und er lebte sie exzessiv. Jahrelang war er auf Reisen, und das Studium der Sprachen gehörte zu Artmanns Leidenschaften. Auch als Übersetzer war er eigenwillig. Er übertrug Villon ins Wienerische und schuf brillante deutsche Versionen von Edward Lears Limericks. Der Übersetzung von Carl von Linnés Lappländischer Reise verdankte er die Anregung zu seinem vielleicht schönsten Buch: das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken.

Mit seinem Aeronautischen Sindtbart verwandelte sich Artmann den Abenteuerroman des Spätbarock an, mit seiner Grünverschlossenen Botschaft schuf er eine Sammlung von Deutungen im Stil jener Traumbücher, die einem helfen sollten, im Lotto die richtige Nummer zu setzen. Immer wieder lockte es ihn, Trivialstoffe wie Dracula oder Frankenstein neu und ganz unkonventionell zu erzählen. Und so sind Artmanns Texte witzig und poetisch, altmodisch und modern, allgemeinverständlich und schwierig, kurz: Literatur und sonst nichts. Das war zu wenig, um Artmann jenen Ruhm zu sichern, der ihm gebührte. Es ist genug, um ihm einen Kreis von Fans zu erhalten, der nun schon mehr als sechs Jahrzehnte für den H.C. aus Wien schwärmt.

Vor einer Woche ist Friederike Mayröcker gestorben. Sie wurde 96 Jahre alt. H.C. Artmann, der enge literarische Verwandte, ist schon lange tot. Heute jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal. 1979 veröffentlichte Oswald Wiener eine Broschüre mit dem schönen Titel Wir möchten auch vom Arno-Schmidt-Jahr profitieren. Es war das Jahr von Arno Schmidts 65. Geburtstag und zugleich sein Todesjahr. Vom H.C.-Artmann-Jahr profitieren unter anderem die Journalisten Kurt Hofmann und Michael Horowitz. Es sei ihnen gegönnt.
Thomas Rothschild – 12. Juni 2021
ID 12968

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