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Berg-Werk





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„Von einer Kanonisierung Bergs ist derzeit wenig zu spüren. Ihre Romane und Stücke finden zwar in der Gegenwartsliteratur ihren Platz, werden jedoch im literaturwissenschaftlichen Diskurs kaum beachtet, und auch die Schule greift ihr Schaffen bisher nicht auf.“ (Christian Dawidowski: Zwischen Pop und Postmoderne. Sibylle Bergs Stücke und Romane bis 2007, in Text+Kritik I/20 (Bd. 225), S. 20)


Wissenschaftler untersuchen in der TEXT + KRITIK, einer Fachzeitschrift für Literatur deutschsprachiger Schriftsteller, erstmals das Oeuvre der Autorin Sibylle Berg. Die bekannte Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin erhielt in den letzten Jahren zahlreiche Literaturpreise, wie u.a. 2019 den Schweizer Buchpreis für GRM. Brainfuck.

Die Autoren finden in den Dramen und Prosawerken Bergs Konstanten wie eine Beliebigkeit der Figuren, eine gnadenlose Gegenwartsdiagnose und einen Ausgangszustand der Sinnleere. Gewalt, Sexualität und Drogenkonsum sind oft Motivkomplexe in den Werken der heute 58jährigen. Zwischen „Das wird schon“ und „Vergeblich, versteht sich“ lässt Berg ihre Figuren oftmals zu Reisen aufbrechen, stets einhergehend mit einer Sinnsuche.

Olivier Garofalo betreute 2012 als Dramaturg Sibylle Bergs Drama Hauptsache Arbeit! in der Badischen Landesbühne Bruchsal. Er setzt sich in seinem den Band einleitenden Essay mit dem Verschwinden des Subjekts bei Berg auseinander:


„Gerade in ihren Theaterstücken, die im Prinzip den Menschen benötigen, um auf der Bühne lebendig zu werden, spielt das einzelne Subjekt keine Rolle. Das Verschwinden des Subjekts ist jedoch nicht willkürlich, sondern kann als gesellschaftlicher Kommentar oder gar als Realität interpretiert werden.“ (S. 5)


Niklaus Helbling brachte als Theaterregisseur Sibylle Bergs Dramendebüt Helges Leben 2000 am Schauspielhaus Bochum zur Uraufführung. In seinem Essay beschreibt er das Drama als eine Art Welttheater in drei Teilen mit Liedtexten, langen Monologen, lakonischen Dialogen und einer Frau Gott:


„Was mir daran sofort gefiel, war diese phantastische Science-Fiction-Idee: Die Menschen sind ausgestorben, die Tiere haben die Macht auf der Erde übernommen.“(S. 11)


Helbling berichtet über seine Zusammenarbeit mit der damals aufstrebenden Pop-Literatin und seine Umsetzung der Theater-Visionen:


„Ihr scheinbar gnadenloser Blick auf die Männer und Frauen in Zeiten der spätkapitalistischen Ausbeutung gewinnt auf der Bühne die beste Wirkung, wenn die Schauspieler/innen ihren Texten eine emotionale Wahrheit verleihen können.“ (S. 17)


Helbling brachte später fünf weitere Dramen Bergs zur Uraufführung, wie die Auswahlbiografie zu Sibylle Berg von Marianne Raffele und Philipp Schlüter auf S. 91 verrät. Neben Helges Leben (2000) inszenierte er auch Bergs Schau, da geht die Sonne unter (2003) und Das wird schon. Nie mehr lieben! (2004) am Schauspielhaus Bochum. Am Schauspielhaus Zürich brachte er Wünsch dir was (2006) und Von denen, die überleben (2008) zur Uraufführung. Am Burgtheater Wien zeigte er Nur Nachts (2010).

Christian Dawidowski, Professor für Germanistik an der Universität Osnabrück, ordnet Berg als „Repräsentantin der filmisch geprägten Short-Cut-Technik“ (S. 21) ein. Durch Intermedialität wie Musikalisierungen und eine filmische Erzählweise mache Berg bewusst, dass das Geschehen inszeniert werde. Ihre Texte machten eine Sinnleere des Menschen fühlbar (S. 24), der im Kapitalismus oft auf sein ökonomisches Potenzial reduziert werde (S. 23):


„Der Ausgangszustand der Sinnleere wird bei Berg mannigfaltig variiert, gehorcht letztlich aber einer klaren Vorgabe: skizziert wird ein >posthumanistisches< setting, in dem der meist längst flexibilisierte, postmoderne Mensch einem medialen und konsumorientierten overload ausgeliefert ist – und sich dankbar und freudig ausliefert.“ (S. 22)


Dawidowski vergleicht die Sinnsuche von Bergs Figuren oder Protagonisten mit dem mittelalterlichen Epos der „aventiure.“ Berg dekonstruiere jedoch traditionelle Muster wie die Bildungsreise, „ohne dabei auf das Erzählen ganz zu verzichten.“ (S. 29) Bergs Texte mündeten dabei oft popliterarisch und postmodern in der Groteske (S. 29).

Julia Reichenpfader betrachtet regressive Reaktionen in Bergs Romanen. Sie skizziert eine misanthropische Manier bei Bergs Protagonisten (S. 31) und hebt hervor, dass oftmals regressives Verhalten der Figuren „ein mutiges erwachsenes Entgegentreten der Probleme“ (S. 40) ausschließe. Wenn Grenzen der Normalität lustvoll Richtung Anomalität überschritten werden (S. 43-44), sorgt das mitunter für grundlegende Irritation (S. 48). Rolf Parr, Professor für Germanistik an der Universität Duisburg-Essen, widmet sich der Normalität, Hypernormalität und Monstrosität bei Bergs Roman-Figuren. Er interessiert sich dabei besonders für die Figur des Callboys und des Transgenders in Bergs zweitem Roman Amerika (1999).

Anke S. Biendarra, Professorin für German Studies an der University of California, ordnet Berg als Popfeministin ein. Denn Berg stellt in ihren journalistischen Texten Genderrollen offensiv zur Diskussion (S. 51). Biendarra beobachtet und hinterfragt einen grundlegenden ironischen Duktus und ein ästhetisches Verfahren der ironischen Selbstdistanzierung:


„Sich beständig im ironischen Modus zu äußern, erlaubt es, dauerhaft die Unterscheidung zwischen tatsächlichen und 'erwähnten' zitierten Standpunkten zu verwischen, was im Ergebnis eine schillernde, fluide Position produziert, die sich niemals wirklich auf etwas festlegt.“ (S. 55)


Indem Berg im Prosa-Werk Gold (2000) ihr eigenes vermeintliches "Versagen" als Autorin ausstelle, konterkariere sie es auch (S. 54). Ihre S.P.O.N.-und Spiegel-Kolumnen pointiere Berg auch gerne mit undifferenzierten Überzeichnungen, überspitzten Aussagen und Schockeffekten (S. 57).

Alexandra Pontzen, ebenfalls Germanistikprofessorin an der Universität Duisburg-Essen, listet ent-täuschende Effekte von Bergs Narration (S. 60), wie fehlende Handlungsspannung und fehlendes Identifikationspotenzial mit stereotypisierten Figuren (S. 59). Ein Leseflow werde durch Techniken wie „Perspektiven-, Orts-, Zeit- und Ebenenwechsel, Wiederholung, Kommentierung, Überspitzung“ (S. 59) verhindert, so Pontzen. Bergs Schaffen „oberflächenästhetisch als Zynismus, kultur- und genderkritische Satire“ (S. 61) zu charakterisieren, greift ihr zufolge zu kurz. Die Professorin für deutsche Literatur des 18.-21. Jahrhunderts und Medienkulturwissenschaft wirbt dafür, Bergs Gesamtwerk als literarisch-philosophisches Projekt der Moralistik zu denken:


„Explizite intertextuelle Bezüge zur Moralistik finden sich in inhaltlichen Kernaussagen zu den Abgründen von Psyche, Politik und Medienpraxis, in der Hinwendung zu gesellschaftlichen Riten und milieuspezifischen Gepflogenheiten ebenso wie in poetologischen und stilistischen Vorlieben der Autorin.“ (S. 62)


Pontzen hebt hervor, dass bei Berg „alltagsweltliche Rituale, milieuspezifische Redeweisen, Kleidungs-, Wohn- und Konsumvorlieben“ (S. 64) allgegenwärtig seien. Eine literaturhistorische wie – typologische Einordnung von Sibylle Berg in die Moralistik werfe einen würdigen neuen Blick auf das Gesamtschaffen der Autorin, so Pontzen.

Julia Schöll, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Bamberg, widmet sich der Trostlosigkeit in Bergs Roman Die Fahrt (2007). Tourismus dient Bergs Protagonisten oft als naheliegendes Sinnangebot im Zuge der weltweiten Mobilität, etwa auch im Roman Ende gut (2004). Ihre Protagonisten versuchen, im Fremden das Vertraute zu finden. Bergs fünfter Roman Die Fahrt verweigere sich konsequent jedweder Reiseromantik, so Schöll. Auch im fernen Ausland lauere stets die gleiche unheimliche Leere, Identitätskrise, eigene Unzulänglichkeit oder Trägheit wie in der Heimat. Schöll betrachtet die Ruhelosigkeit der Figuren in Die Fahrt zwischen Verzweiflung und Lähmung. Sie ordnet Die Fahrt als fatalistische Persiflage zur Reiseroman-Gattung ein, da sich Bergs Roman gängiger Ideen der "Entwicklung" und "Bildung" (S. 71) verweigere. Auch ständige Wechsel zwischen Innen- und Außensicht und trockene Kommentare der Erzählinstanz ließen das Verhältnis der Figuren zum Raum nahezu beliebig erscheinen.

Mitherausgeberin Stephanie Catani, Germanistik-Professorin an der Universität Augsburg, beschäftigt sich schlussendlich mit medialen Mechanismen der Autorschaftsinszenierung bei Sibylle Berg. Sie problematisiert das Etikett Bergs als „erbarmungsloseste Schriftstellerin deutscher Sprache“, das ihr der Autor und Journalist Daniel Schreiber 2012 medienwirksam im Kulturmagazin Cicero verlieh. Catani betont, dass Berg bewusst mit ihrem furchteinflößenden Image und mit dem Voyeurismus ihrer Leserschaft spiele, etwa auch über ihren Twitter-Kanal und ihre Homepage. Schon in Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1999) habe Berg sich auf dem Buchcover als mögliches Mitglied der Generation "Fräuleinwunder" inszeniert. Bergs Debütroman präsentiert die Autorin als sich räkelndes Covergirl im zerwühlten Bett lasziv mit Zigarette. Nicht immer habe Berg eine mögliche Inszenierung ihrer Person selbst lenken können. Catani verweist auf eine Selbstaussage der Autorin im Dokumentarfilm Wer hat Angst vor Sibylle Berg? (2015) von dem Regisseurinnenduo Böller & Brot:


„Im Dokumentarfilm entlarvt Berg das Cover rückblickend als Teil einer verlegerischen Marketingstrategie, die sich von der lasziven Darstellung einer jungen Autorin entsprechende Aufmerksamkeit für deren literarisches Debüt erhoffte.“ (S. 87)


*

Insgesamt eröffnet der Band einige interessante und teils auch neue Perspektiven auf das schriftstellerische, dramaturgische und journalistische Werk der bis heute sehr präsenten und vielfach ausgezeichneten Autorin, ohne der Fülle des Oeuvres vollumfassend gerecht zu werden. Leider werden neuere Buchveröffentlichungen Bergs, wie GRM. Brainfuck (2019) oder auch Nerds retten die Welt (2020) kaum oder gar nicht in der Fachzeitschrift beleuchtet.


Ansgar Skoda - 22. Februar 2021
ID 12765
et+k-Link zum Sibylle Berg-Heft von TEXT + KRITIK


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