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nachDRUCK # 2

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Dissertation

Aufbruch und

Niederlage





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„Stuttgart 21“ hat die als eher schläfrig geltende baden-württembergische Hauptsadt in die Schlagzeilen gebracht und überregional, sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus, ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Es steht für zweierlei: für eine basisdemokratische Bewegung gegen die politische und wirtschaftliche Hegemonie, wie man sie in Deutschland zuletzt in der Anti-AKW-Bewegung erlebt hatte, und für deren Niederlage. Stuttgart 21 hat Gesellschaftsschichten zusammen gebracht, die einander in den traditionellen Klassengegensätzen eher als Gegner gegenüber standen, wie die Weinbauern am Oberrhein ein paar Jahrzehnte zuvor Seite an Seite mit linken „Chaoten“, mit denen sie politisch wenig gemeinsam hatten, gegen Kernkraftwerke in Wyhl und Fessenheim protestierten. Ihre Motive waren unterschiedlich, aber der „Feind“ war für diese wie jene der selbe.

Julia von Staden hat in ihrer Dissertation Stuttgart 21 – eine Rekonstruktion der Proteste die Vorgänge in der schwäbischen Metropole beschrieben und analysiert. Der Untertitel Soziale Bewegungen in Zeiten der Postdemokratie benennt den allgemeineren Aspekt der Untersuchung und nimmt zugleich ein Ergebnis vorweg: Stuttgart 21 signalisiert das Ende dessen, was bislang als Demokratie definiert wurde, zerstört im Ergebnis also, was es erneuern oder überhaupt erst im strengen Sinn verwirklichen wollte, die Demokratie eben. In einer anderen Terminologie könnte man auch sagen: Stuttgart 21 war der letzte Ausläufer und zugleich das Debakel der Graswurzelbewegung, die unter Demokratie mehr verstand als turnusmäßige Wahlen und die Trennung von Exekutive und Legislative.

Den konventionellen Erfordernissen einer Dissertation folgend, enthält das Buch umfängliche Ausführungen über die Forschungslage zu sozialen Bewegungen sowie Details zur Methode, die vom „normalen“ Leser, der in erster Linie an Stuttgart 21 interessiert ist, übersprungen werden können. Immerhin gelingt es der Verfasserin, ein aktuelles Thema von anhaltender Brisanz zum Gegenstand ihrer Inititationsleistung zur Erlangung des Doktortitels zu machen. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit angesichts einer Unzahl von Dissertationen, die kein Mensch außer der Doktormutter oder dem Doktorvater (und manchmal nicht einmal die) lesen werden, und verdankt sich wohl zumindest auch dem Doktorvater Peter Grottian, einem der Überlebenden der 68er-Generation, die nicht, wie viele Hochschulsubjekte oder wie einer der negativen Helden von Stuttgart 21, wie Winfried Kretschmann, die Kurve des Opportunismus und des Systemkonformismus gekratzt haben.

Julia von Staden benennt die „Nutznießenden, Profitierenden und Befürwortenden“ von Stuttgart 21: von der Deutschen Bahn und den Eisenbahn-Infrastruktur-Unternehmen bis zur mittelständischen Bauwirtschaft, den großen Baukonzernen, der Versandhausfamilie Otto und den Banken. Sie nennt die Namen von Personen, an denen sich die Interessenüberschneidung zwischen Politik und Wirtschaft nachweisen lässt. Sie belegt die Parteinahme der beiden Stuttgarter Tageszeitungen für das Projekt.

Diesen Institutionen und auch einzelnen Protagonisten stehen mehrere Fraktionen des Widerstands gegenüber, die von Staden im einzelnen charakterisiert und in den Ablauf der Geschehnisse einordnet. Und sie unterschlägt nicht die inneren Widersprüche der Protestbewegung: „Die informellen Hierarchien und der selbstermächtigende Anspruch einiger Weniger waren durchsetzungsfähiger als die oft langwierigen basisdemokratischen Aushandlungsprozesse auf der Ebene der Basisbewegung.“

Dennoch: die Protestbewegung gegen S21 konnte in ihren Anfängen, 2010, vor Beginn der Abrissarbeiten am Hauptbahnhof, beachtliche Erfolge, insbesondere in der Akzeptanz durch die Bevölkerung, verzeichnen. Obwohl sie sich der Gewaltfreiheit verschrieben hatte, wurde sie „bereits zu Beginn der Massenproteste durch den Verfassungsschutz beobachtet“.

Die Autorin beschreibt die Veränderungen und die Eigendynamik innerhalb der Protestbewegung in einer weiteren Phase, in der der Schlossgarten zu einem Zentrum des Geschehens und der Schutz von zur Fällung frei gegebenen Bäumen durch die so genannten „Parkschützer“ ein bestimmendes Thema wurden. Die einzelnen Gruppen innerhalb der Protestbewegung bemühten sich mit mehr oder weniger Erfolg darum, Konflikte zu vermeiden oder zu verdrängen, was die Gefahr in sich barg, „dass sich unterschwellige Konflikte auf andere Weise ihren Weg bahnen könnten“.

Über 14 Seiten protokolliert und kommentiert von Staden den massiven und folgenreichen Polizeieinsatz am so genannten „Schwarzen Donnerstag“, dem 30. September 2010. Bei aller Objektivität drückt sie sich nicht vor einer Stellungnahme. „Auch die mögliche Verantwortung der DB AG bis hin zu gemeinsamen Planungen mit Politik und Polizei wurden in keinem Gerichtsverfahren oder Untersuchungsausschuss thematisiert.“

Die seinerzeit von vielen idealisierte Rolle Heiner Geißlers als „Schlichter“ zwischen Projektbefürwortern und -gegnern sieht Julia von Staden kritisch. Dabei lenkt sie die Aufmerksamkeit auch auf die Sprachverwendung. Schon der Begriff „Nutznießer“ anstelle von „Projektbefürworter“ macht bewusst, dass die Wortwahl nicht nur in Genderfragen von Bedeutung ist. Von Staden hält fest, dass Geißler auf der Beibehaltung des Wortes „Schlichtung“ statt „Faktencheck“ bestanden hat und was das impliziert, dass eine „gleichberechtigte Auseinandersetzung auf Augenhöhe“ nie vorgesehen war.

Julia von Staden kommt zu dem überzeugenden Schluss: „Der Hinweis des Schlichters, dass nur die DB AG über einen Projektstopp befinden könne, bestätigt die Lesart des Großprojekts Stuttgart 21 als ein postdemokratisches, neoliberales Projekt.“ Sie bemängelt, dass dieser Aspekt „in der Protestbewegung gegen S21 weiterhin nahezu gänzlich ignoriert“ wurde. Zugespitzt ließe sich sagen, dass sich in dem breiten Bündnis neben politisch bewussten und analysierfähigen Persönlichkeiten auch im Grunde unpolitische Mitläufer befanden – wie schon in der Studenten- oder in der Frauenbewegung.

Vollends kritisch sieht die Autorin das Verhalten der Protestbewegung nach dem scheinbar für sie günstigen Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg und im Zuge der Volksabstimmung über S21. Eine Äußerung des neuen Ministerpräsidenten Kretschmann, für den „der Käs‘ gegessen“ war, bewertet sie zutreffend als „indirektes Zugeständnis an die postdemokratische Herrschaftslogik“.

Einen Vorwurf an die Partei der Grünen hält Julia von Staden für „fehl am Platz“. Die Grünen hätten „schließlich nach ihrer Parteienlogik gehandelt und es wäre widersinnig, ihnen dies vorzuwerfen“. Widersinnig? Wenn es widersinnig ist, eine Politik zu kritisieren, die der eigenen Parteienlogik entspricht, erübrigt sich jegliche politische Kritik. Auch Orbán oder Erdoğan handeln nach ihrer Parteienlogik, und Schlimmere als sie haben es in der Geschichte getan. Man muss der Partei der Grünen vorwerfen, dass es zu ihrer Parteienlogik gehört, Ziele und Prinzipien, die sie einst befürwortet hat, deren Vorkämpfer sie überhaupt erst an die Macht gebracht haben, für die Erhaltung dieser Macht und der damit verbundenen Pöstchen und Privilegien zu opfern. Nicht nur in Stuttgart, nicht nur im Zusammenhang mit S21. Die ekelhafte Vorteilsnahme eines Sigmar Gabriel ist das Modell. Es ist parteienübergreifend. Es entspricht der allgemeinen Parteienlogik im postdemokratischen Zeitalter. Was sich doch alles aus einer Dissertation lernen lässt. Auch wenn die Dissertantin diese letzte Konsequenz scheut.

Nach ihrer Logik gehandelt haben auch die Nutznießenden, Profitierenden und Befürwortenden von S21. Offen gestanden: sie sind sympathischer als die neuen Nutznießenden, Profitierenden und Befürwortenden einer grünen Regierung, die sich heute an einem Projekt beteiligen, dessen Verhinderung sie sich einst auf die Fahnen geschrieben haben. Im Ergebnis unterscheiden sie sich von den S21-Anhängern nur durch ihre Gesinnungslumperei. Oben bleiben? S21 wird gebaut!


Thomas Rothschild – 5. Juli 2020
ID 12337
Verlagslink zu Stuttgart 21 – eine Rekonstruktion der Proteste


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