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Wie Max Reinhardt

gearbeitet hat





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Die Salzburger Festspiele wagen den Hochseilakt. Während die anderen Sommerfestivals ihre diesjährige Edition wegen der Coronakrise abgesagt haben, haben sich die Salzburger gegen das allzu hohe wirtschaftliche und für das kalkulierte gesundheitliche Risiko entschieden, wenn auch in einer verkürzten und radikal reduzierten Version. Dem erhofften Verkauf der verbliebenen Sitzplätze fällt auch die professionelle Kritik zum Opfer. Die Salzburger Festspiele bedauern ganz besonders, „in diesem Jahr der Pandemie und trotz Ihrer langjährigen Festspieletreue mitteilen zu müssen, dass es diesen Sommer nicht möglich sein wird, Ihnen Pressekarten zur Verfügung zu stellen“. So weit, so betrüblich, aber immerhin verständlich. Nicht ganz so nachvollziehbar ist der folgende Satz: „Die gute Nachricht ist, dass wir Pressetexte und Podcasts mit Interviews sowie Pressetexte produzieren, die wir allen Journalisten zur freien Verwendung in ihren Medien zur Verfügung stellen.“ Entspricht es wirklich Markus Hinterhäusers und Helga Rabl-Stadlers Vorstellung von einer kritischen Öffentlichkeit, dass die Medien anstelle von Besprechungen durch leibhaftig anwesende Journalisten von den Veranstaltern produzierte Pressetexte veröffentlichen? Ganz neu ist die Zumutung nicht. Aber wenn das Schule macht… Sigrid Löffler hat dieser Tage an die Ersetzung der Literaturkritik durch Laienmeinungen im Internet erinnert. Die vollständige Substituierung der Kritik durch Pressetexte und Podcasts wäre dann der nächste Schritt. Auch sie ist in zahlreichen Medien bereits Praxis.

Aber ganz leer sollen Kritiker nicht ausgehen. Wenn ihnen schon der Zugang zu den Veranstaltungen der Festspiele verweigert wird – es sei denn, sie seien bereit, für ihre eigene Arbeit ein paar hundert Euro zu bezahlen –, so können sie immerhin ein imponierendes Druckwerk studieren, das garantiert ansteckungsfrei ist. Es handelt sich um das Regiebuch zu Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" von Max Reinhardt. Nun muss man den Jedermann nicht für einen Höhepunkt der Dramatik des 20. Jahrhunderts halten, und erst recht muss man es nicht als beglückend empfinden, dass er Jahr für Jahr die Salzburger Festspiele garniert. Vieles spricht dafür, in dem Spiel vom Sterben des reichen Mannes eine Anbiederung an die herrschende Gesellschaft zu erkennen. Machen wir uns nichts vor: Jedermann ist ein grauenvoll schlechtes Stück. Pathetisch, langweilig und bigott, der Versuch eines katholischen Dandys, seine jüdischen Vorfahren durch Übereifer vergessen zu machen. Wenn der Antisemitismus, nach einem Wort August Bebels, der Antikapitalismus des dummen Kerls ist, dann repräsentiert der Jedermann den Antikapitalismus des Spießers. Wer am Glauben festhält, sagt er uns, und nicht (nur) am Geld, kommt in den Himmel. Es ist schon kurios, wie Leute, die ansonsten nicht müde werden, Theaterereignisse als „veraltet“ und „konventionell“ abzuqualifizieren, einem Spektakel zujubeln, das schon zum Zeitpunkt seiner Entstehung (bewusst!) anachronistisch war. Während man echte barocke Stücke, wenn überhaupt, nur noch mit ironischer Brechung inszeniert, nimmt man diesen Schmarren ernst, der sich zu seinem Vorbild verhält wie die Prunkbauten des Historismus zu tatsächlichen Kirchen und Palästen der Gotik, der Renaissance oder des Barock.

Aber der Wert der aufwendigen Publikation liegt nicht in einer erneuten Auseinandersetzung mit Hofmannsthal, sondern in dem Einblick in die Arbeitsweise eines großen Regisseurs. Neben der gedruckten Transkription des Regiebuchs mit gewissenhaften Kommentaren von Harald Gschwandtner (inklusive Daten zu den Darstellern der Uraufführung von 1911 und des Gastspiels in den USA von 1927) und einem Essay von Evelyn Annuß bietet ein zweiter Band das Faksimile des Regiebuchs, ein visuelles Vergnügen nicht nur für bibliophile Sonderlinge und Spinner, die ein heiliger Schauer erfasst, wenn sie Archive nach Orginalen durchstöbern. Das Regiebuch vermittelt einen überwältigenden Eindruck von Reinhardts minutiöser Vorbereitung. Kaum eine Zeile des Hofmannsthalschen Textes bleibt ohne eine Eintragung zu den drei Inszenierungen in Berlin, Salzburg und New York. Es handelt sich vorwiegend um Anmerkungen zur szenischen Umsetzung und um umfangreiche Striche, aber auch in die Sprache greift der Regisseur gelegentlich ein. Unfreiwillig komisch klingt es unter den gegenwärtigen Distanzregeln, wenn Reinhardt zu Jedermanns Worten „Will morgen zu gelegner Zeit/ Mit einem Arzten Beratung pflegen“ notiert: „Buhlschaft hat sich schon zuletzt etwas weiter weg von ihm gehalten.“


Thomas Rothschild – 25. Juli 2020
ID 12369
Verlagslink: Regiebuch zu Hugo von Hoffmannsthals Jedermann von Max Reinhardt


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