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Erzählungen

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„Was geht mir gerade durch den Kopf? Daß jemand, der die Menschen insgesamt als seine Feinde ansieht, auch erkennen muß, daß sie sich untereinander von Person zu Person genauso Feind sind. Jeder Körper bedroht durch seine Existenz den anderen und kämpft, und sei es unter der Maske ausgesuchter Manieren, ja Menschenliebe, um sein Überleben. Das besiege, wer kann.“ (Brigitte Kronauer, Das Schöne, Schäbige, Schwankende, S. 27)

*

Der Mensch droht dünnhäutig zu werden in Zeiten von Corona. Er sieht in seinen maskenbehangenen Nächsten im öffentlichen Nahverkehr gar eine handfeste Bedrohung; insbesondere wenn ringsum gehustet wird.

Verfolgt man die Alliteration im Buchtitel Das Schöne, Schäbige, Schwankende (2019) weiter, meint man, es werde in den vorliegenden Romangeschichten „gelebt, gelitten, gedichtet“. Ein „feines Flöten und pfeifen“ ertöne zwischen den Seiten. Doch einige, stets aus der Ich-Perspektive wiedergegebene Geschichten handeln auch von Schwerwiegenderem, gar schwelender und schneidender Schuld.

Brigitte Kronauer, eine der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen, verstarb am 22. Juli 2019 nach schwerer Krankheit im Alter von 78 Jahren. Die u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und Thomas-Mann-Preis hochkarätig ausgezeichnete Schriftstellerin hinterließ viele romanhafte Geschichten, die ihr Verlag Klett Cotta einige Wochen nach ihrem Tod als „Romangeschichten“ veröffentlichte. In Das Schöne, Schäbige, Schwankende erweist sich Kronauer einmal mehr als sehr genaue, manchmal gnadenlose Beobachterin, die oft Details bemerkenswert hervorzuheben weiß. Das Gros der Erzählungen dreht sich um menschliche Schicksale, Begegnungen und Sehnsüchte. Kunstvoll werden Besonderheiten des Menschen wiederholt auf Ähnlichkeiten in der Natur und Vogelwelt bezogen - ein leitmotivisches Moment in verschiedenen Erzählungen. So erscheint der Ich-Erzählerin in Das Zittern ihrer Hand die reizvolle Eleganz einer älteren Dame, Frau Julian, wie bei einer auf dem ersten Blick unscheinbaren Meise:


„Wie gern würde ich diese kleine Meise, die mal eher eine Blau-, dann eine Kohl-, dann eine wippende Schwanzmeise war, umarmt und ihre erlesenen Knöchelchen gespürt haben! Das kam natürlich nicht in Frage, niemals.“ (S. 293)


Auch der Tod – naturgemäß eines der bedeutendsten Motive aller Literatur – wird bei Kronauer oft im Bewusstsein ihrer Figuren mit einem Abheben und Davonfliegen verbunden. In der Erzählung Suppenkasper besucht eine Vogelliebhaberin gewohnheitsmäßig seltene Vögel in einem Zoo, auch um sich beschwingt gar vollends in sie einzufühlen:


„Sie flog, so unwahrscheinlich es klingt, den fleischlichen Konturen davon und schwang sich, wie die unbegreiflicherweise aus ihrem Käfig in die Freiheit gelangten Sonnensittiche, immer höher. Immer, immer höher, den Vögeln mühelos nachfolgend, einer immer strahlenderen und nochmals strahlenderen Helligkeit entgegen, wobei sie wohl die Besinnung verlor, um das Neue ertragen zu können.“ (S. 168)


Kronauers Erzählungen erscheinen wie Schlaglichter, artifiziell, künstlich verdichtet, verstiegen und überformt, gehaltvoll und konzentriert. Manche Sätze muss man mehrmals lesen, um sie durchdringen und verinnerlichen zu können. Zuweilen wird gar die Sprachfindung selbst wortreich erkundet: „Er ertastet mit sich nie zufriedengebender, formulierender Genauigkeit eine Welt, über die Biologen, Astrophysiker und sogar mittlerweile Laien viel wissen.“ (S. 283) Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin würde wohl bei jeder Richtlinie für Barrierefreiheit und einfache Sprache durchfallen: sie benutzt Fachvokabular, Fremdwörter, Neologismen, lange Sätze mit vielen Nebensätzen, wenig Absätze, mehrteilige Wortungetüme, Nominalstil und eine betont bildhafte Sprache. Aufgrund dieses ausgefeilten literarischen Gestus lohnt es sich, den einzelnen Erzählungen den nötigen Raum zu geben. Liest man nicht mehr als eine Geschichte an einem Abend, hat man in Zeiten von Corona mehr vom letzten Streich der Kronauer.

Es ist interessant, dass in gleich mehreren Erzählungen eine Schriftstellerin namens Charlotte vorkommt; wohl ein Alter Ego der Autorin, die detailliert über den eigenen Schaffensprozess spricht:


„Man muß warten, bis die Anblicke die reine Durchsicht auf ihre Botschaft freigeben. Es ist ein Fluch und ein Glück, selbst kleinste Anlässe als bedeutungsvolle zu erfahren, so daß vielleicht völlig unangemessene Explosionen entstehen.“ (S. 364)


Kronauer ergründet Wahrnehmungen und Eindrücke, die uns mitunter im Kopf herumspringen, geht ihnen nach und strickt eine ganze Geschichte wie einen farbenfrohen Topflappen daraus. Große Gefühle, Schicksalsschläge und Gedankenwelten werden akzentuiert. In den letzten beiden Erzählungen, Die Jahre mit Katja und Grünewald, widmet sich die Autorin den komplexen Personengeflechten porträtierter (Wahl-)Familien mit jeweils etwa hundert Seiten besonders ausgiebig.

Manches wirkt unglaubhaft, etwa wenn ein kaum 16jähriger Jugendlicher angestrengt und recht altklug in genauen Beobachtungen von Personen schwelgt (S. 148), oder das Altern einer Figur (Sophie) plötzlich nicht mehr mit dem Alter der Erzählerin in der Parallelebene kongruiert (S. 483). Auch sprechen die Figuren schon mal unsensibel, politisch inkorrekt und veraltet von einem Menschen mit Behinderung als „ein Schwachsinniger“ (S. 308) und von „Debilität“ (S. 314). Schließlich wird es vereinzelt in der Orthografie ein bisschen unsauber, wenn es heißt „gelacht geworden“ (S. 513) oder „ich fing ich an“ (S. 528). Hier hätte man sich mitunter mehr Feingespür, Sensibilität und Zugespitztheit erhofft, die an anderer Stelle wieder überbordend erscheint.

Von Schuld, Verlusterfahrungen und der Kraft der Sprache erzählten auch bereits die Vorgängerwerke Kronauers. Genaue Beobachtungen und komplexe Figurenkonstellationen prägten etwa Gewäsch und Gewimmel (2013), Wortgewandtheit und delikater Witz Der Scheik von Aachen (2016). Es ist die unerschöpfliche Sprachgewalt und die unbedingte Lust am gepflegten Räsonieren, die Kronauer wie keine andere trefflich, detailreich und unterhaltsam zu feiern weiß:


„War nicht letzten Endes jedes unscheinbare Vögelchen in der Fülle von Gestalt und Organismus staunenswerter als jede Zeile und Geschichte? Nie genügte man ja der Welt! Kaum nämlich habe ich den Zustand einer oder meiner eigenen Verfassung in Worte gefaßt, entschlüpft diesen Sätzen die Vision eines noch wahreren. Die Formulierungen sind nur eine Kruste, unter der sich eine wesentlich differenziertere Wirklichkeit uneinholbar Bahn bricht – und so unendlich weiter.“ (S. 369)


Ansgar Skoda - 11. Mai 2020
ID 12233
Verlagslink zu den Romangeschichten von Brigitte Kronauer


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