Sehnsucht,
bloß: wonach
genau?
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Bewertung:
„Man kann seinen Körper so sehr hassen, wie man will, man kann ihn ignorieren und schlecht behandeln, man kann so tun, als hätte man mit dem alten Sack nichts zu tun, das juckt den Körper nicht, der meldet sich trotzdem immer wieder und will irgendwas und manchmal kommt auch das Herz dazu, das wird traurig, wenn man den Körper, in dem es steckt, so mies behandelt, das erinnert einen irgendwann daran, dass der Geist nicht trotz des Körpers da ist, sondern allein seinetwegen." (Kathrin Weßling, Sonnenhang, S. 154)
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Nach Super, und dir? (2018) und Nix passiert (2020) erzählt Kathrin Weßling erneut von einer Protagonistin, die ihr Leben unfreiwillig immer aufgeschoben zu haben scheint. Als Katharina plötzlich eine Krebsdiagnose erhält, konfrontiert sie sich mit ihrem vermeintlichen Irrweg. Die Achtundreißigjährige muss sich die mit einem Tumor befallene Gebärmutter entfernen lassen. Viel zu selten wird in der Gegenwartsliteratur eine sogenannte Hysterektomie, die chirurgischen Entfernung der Gebärmutter, behandelt, wie hier im tragikomischen Roman Sonnenhang. Die aus personaler Erzählperspektive betrachtete Protagonistin denkt über ihren möglichen Kinderwunsch, Lebensträume und einen vergangenen Lebensgefährten nach, dem sie den Kosenamen „Schnittlauch“ gab. Während gleichaltrige Frauen in ihrem Berliner Umfeld Familien gründen, war Katharina bisher die meiste Zeit alleinstehend und vor allem beruflich erfolgreich.
Nun fällt es ihr wie Schuppen von den Augen, dass sie wohl keine Familie mehr gründen wird. Mit einem gewissen Hang zur Larmoyanz betreibt die Romanheldin gepflegt Nabelschau. Der Leser lernt, dass es Katharina mitunter schwer fällt, sich auf andere einzulassen. Endlich wagt sie jedoch den Schritt hin auf andere Menschen, um nicht noch mehr im Selbstmitleid zu versinken. In ihrer Stammkneipe trifft sie sich mit einer befreundeten Arbeitskollegin, Alina. Sie möchte jedoch an diesem wohlvertrauten Ort lieber gemeinsamen Ritualen nachgehen, als über ihre Erkrankung zu sprechen:
„Alina zündet sich eine Zigarette an und lehnt sich an Katharina, »Jetzt sag schon«, sagt sie und die Nähe beruhigt Katharina schlagartig, sie will nicht, dass der Moment vorübergeht, sie war so viel allein in letzter Zeit, das spürt sie jetzt erst so richtig, sie will eigentlich viel lieber Kniffel spielen und Jägermeister trinken und nicht mehr nachdenken müssen, sie will vergessen und endlich mal fünf Stunden Ruhe von sich selbst haben, ihr Kopf kommt ihr oft vor wie ein sehr nerviges Kleinkind, das ständig schreit, immer ist irgendwas, immer so viele Gedanken und Gefühle und so viel Wollen und Nichtkönnen und so viel Sehnsucht nach irgendwas, bloß: nach was genau?“ (S. 27)
Die Autorin, selbst Jahrgang 1985, weiß, dass Kniffel heute bei Enddreißigern wieder beliebter wird, als noch vor einiger Zeit. In Sonnenhang erscheinen verschiedene Kontexte frei improvisiert komponiert: In lebendiger Sprache, nüchtern und unverblümt geht es auch um Vereinsamung in Zeiten von Dating Apps. Der Clou des Romans ist jedoch, dass sich Katharina in der noblen Seniorenresidenz Sonnenhang ein Ehrenamt für die Wochenenden sucht, um wieder regelmäßig unter Menschen zu sein. Hier lernt sie den attraktiven Altenpfleger Umut kennen, in den sie sich prompt verliebt. Doch, wie könnte es anders sein, Umut ist vergeben. Weßling traut sich in ihrem dritten Roman Klischees liebevoll zu bedienen, wenn etwa ein Alpaka-Streichelzoo das lang erwartete Fest im Altenheim bereichert und ein Alpaka justement ausbüxt. Neben emotionalen Übertreibungen wartet der Roman mit erstaunlich vielen Zufällen auf, als etwa die neue Frau von Schnittlauch mit ihrem Partner eigene Elternteile in Sonnenheim besucht oder sich Umut recht plötzlich von seiner Gattin trennt. Es ist jedoch eine schöne Pointe, wenn sich eine Beziehung der Romanheldin zu einer Heimbewohnerin in Sonnenhang erstaunlich intensiviert. Während die schrullige und abweisende Margot auf Katharinas Fürsorge baut und ihr wohlmeinenden Rat in Lebensdingen gibt, feiert Katharinas einzige verbleibende nahe Verwandte, ihre Mutter, Weihnachten lieber mit Freunden, anstatt mit ihr. Schlussendlich lernt Katharina auch in Erinnerung an ihren verstorbenen Vater bittere Trauerarbeit zu leisten, wofür Kathrin Weßling starke Bilder findet:
„Jahre waren vergangen und erst jetzt hat Katharina das Gefühl, dass ihre Mama sich langsam an ein Leben ohne ihren Vater gewöhnt hat. Auch wenn das gar nicht geht, denn man gewöhnt sich an so etwas nie, ein riesiges Loch ist in eine Straße gerissen worden, die man bis dahin ganz entspannt entlanggefahren ist, Jahrzehnte ohne größere Unfälle manchmal, ohne Stopp und ohne dass der Tank leer ging, und dann schlägt da diese Bombe ein und man steht ewig davor und verzweifelt und weiß nicht weiter, alle wollen helfen, aber niemand hat das richtige Werkzeug dabei, wie soll das auch gehen, wie soll man den Krater jemals wieder füllen, für eine Brücke ist er zu groß, zum Zuschütten zu tief und dann, mit den Jahren, findet man einen Weg um das Loch herum und sieht es dann bis zum Rest seines Lebens im Rückspiegel.“ (S. 198)
Ansgar Skoda - 20. Juli 2025 ID 15372
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