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Autobiografie

Ein Fišer

namens Bondy





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Ein Kriterium, nach dem man die philosophischen Schulen und Richtungen einteilen könnte, wäre jenes der Nähe zu angrenzenden Disziplinen. Dem Versuch, das Denken über die sogenannten "letzten Fragen" den exakten Wissenschaften anzugleichen, also zum Zwecke der Eindeutigkeit Mathematisierung und Formalisierung anzustreben, stehen Tendenzen gegenüber, die Philosophie den Künsten, insbesondere der Literatur anzunähern und somit Poesie, ästhetische Qualität zu gewinnen, freilich notwendig verbunden mit Mehrdeutigkeit. Dass diese zweite Richtung in den totalitären Polizeistaaten des Warschauer Pakts verbreitet war, hat sicher mit der politischen Situation, insbesondere auch mit der Zensur, gegen die Mehrdeutigkeit ein historisch bewährtes Mittel ist, zu tun. Ich denke an den Polen Leszek Kołakowski oder den Tschechen Ivan Sviták. In diesen Kontext könnte man auch Egon Bondy stellen. Die Konzeption der Doppelbegabung würde der Tatsache nicht gerecht, dass bei ihm philosophisches und dichterisches Werk nur in einzelnen Arbeiten unverbunden nebeneinander stehen, meist aber eine Synthese bilden. Bondys philosophische Überlegungen und Erkenntnisse werden eher in poetische, häufig auch humoristische Formen gekleidet, als dass er, wie es die deutsche Tradition liebt, Dichtung mit Tiefsinn anstrebte. Dabei scheut er den Stilbruch nicht, das Nebeneinander von abstrakter und plebejischer Sprache, von existentiellen und ganz und gar persönlichen Motiven. Ähnlich wie bei Sviták, sind seine Liebesgedichte oft philosophische Gedichte und umgekehrt.

Die Anfänge von Bondys Schreibaktivitäten reichen in die vierziger Jahre zurück. Seine ersten Buchpublikationen, in der relativ liberalen Zeit unmittelbar vor dem Prager Frühling, waren allerdings rein philosophischer Natur. Wie weit Bondys Interessen reichen, mag die Tatsache erhellen, dass er zwischen 1991 und 1995 Publikationen zur indischen, zur chinesischen, zur antiken und zur mittelalterlich-christlichen Philosophie veröffentlicht hat. Die Biographie des 1930 in Prag Geborenen und 2007 in Bratislava Verstorbenen bringt es mit sich, dass er sich auch immer wieder mit dem Marxismus aus­ einanderetzte. Dabei signalisiert schon der Name die oppositionelle Haltung, die Zivilcourage und zugleich den Glauben an die zumindest symboli­sche Macht des Wortes. Das für Tschechen unmissverständlich jüdi­sche Pseudonym gab sich Zbyněk Fišer nämlich als Protest gegen den Antisemitismus in seiner sich sozialistisch nennenden Heimat.

Egon Bondys utopischer Roman Die invaliden Geschwister, 1974 geschrieben, kam erstmals 1981 im verdienstvollen Exilverlag 68 Publishers von Josef Škvorecký heraus und erschien 1999 bei Elfenbein in deutscher Übersetzung. Martin Machovec schreibt im Nachwort zu Bondys pikareskem Roman Reise durch das Böhmen unserer Väter, dass


„‘Die invaliden Geschwister' seiner­zeit zu einer Art 'pro­grammatischer Erklärung' oder 'Bibel' der tschechischen Untergrundkultur wurden und die Vision eines 'fröhlichen Ghettos' der Enterbten, die dieses Werk bietet, die Vision des Sinns der Arbeit und des Lebens unter Bedingungen, die scheinbar jeglichen Sinn ausschließen – ungeachtet dessen, dass sie auf der Ebene ei­nes Traums, eines Märchens (mit seinem ganzen unerlässlichen Arsenal) oder im wahrsten Sinn des Wortes auf der Ebene des Mythos oder der Utopie verabreicht wird – als sehr konkret und realistisch empfunden wurde“.


Bondy hat danach mehrere Bände mit Prosa und Dramatik veröffentlicht. Gleich der Anfang der Invaliden Geschwister erinnert an Bohumil Hrabal, mit dem Bondy seit langem be­freundet war und mit dem er gelegentlich auch die Technik des "Bafelns", des aus­schweifenden, scheinbar naiven Plauderns teilt. Mit Hrabal gemeinsam hat Bondy auch einen schlitzohrigen Witz. Entschiedener aber als Hrabal nutzt er Verfahren des Surrealismus und des Absurden. Man könnte an englische Traditionen von Swift bis Edward Lear denken. In einzelnen Werken findet man auch thematische oder formale Verwandtschaften – ich spreche nicht von Einflüssen – mit Mi­lan Kundera, Vladimir Vojnovič, Fasil Iskander, Danilo Kiš oder György Konrád. Schwierigkeiten habe ich, in Bondys Werk die Nähe zu den amerika­nischen Beatniks zu entdecken, die Martin Machovec suggeriert. Bondys Humor und Ironie sind entschieden europäisch, und auch die Zerstörung überlieferter ästhetischer Konventionen war in der Nachkriegsliteratur kein ausschließlich amerikanisches Phänomen. Der „freie Raum des kulturellen Untergrunds“, den Bondy laut Machovec programmatisch nützt, ist mit dem amerikanischen Underground kaum vergleichbar, und die „eschatologische Weltsicht“, sowie die Verbindung von Intimem mit Politischem und Transzendentem, die Machovec als tertium comparationis nennt, sind nicht spezifisch für die Beat-Literatur. Ebenso gut ließen sich Traditio­nen anführen von Rozanov und Zamjatin oder in der Lyrik den russischen Symbo­listen bis zu Chlebnikov, Majakovskij oder auch Benn. Bondys Prosa kommt, stär­ker als jene von Hrabal, aus dem Kopf, nicht aus der Beobachtung und Erinne­ung. Als charakteri­stisch kann ein kurzer Absatz gelten, der plötzlich nach etwa zwei Dritteln des Romans auftaucht:


„An dieser Stelle kann ein jeder selbst hinzu­ fügen, was es dort wohl noch so alles gab. Denn was immer ihm auch einfällt, es gehört dorthin und es war auch ganz gewiss dort gewesen. Deshalb lassen wir hier einen freien Platz.“


Hurtig purzeln in dem Roman Zeiten und Kulturen durcheinander. Bondy nutzt Wirklichkeitspartikel als literarische Elemente – so kommt er in seinem Roman namentlich auch selbst vor –, er parodiert Formen der Sprachverwendung bis hin zum sich verselbständigenden Sprachspiel. Die Plastic People of the Universe, die bedeutendste Rockgruppe des politischen Untergrunds in den Jahren nach der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings, griffen auf Bondys Texte zurück.

Egon Bondys lyrische Produktion, die zwischen 1968 und 1990 nur im Ausland und im tschechoslowakischen „Samizdat“ erscheinen konnte, umfasst neun Bände einer zwischen 1991 und 1993 erschienenen Werkausgabe. Martin Machovec erwähnt bereits 1992 mehrere Dutzend Gedichtsammlungen, mehr als zwanzig Prosaarbeiten, eine Reihe philosophischer und politologischer Studien und drei­zehn Bände aus dem Gebiet der Philosophiegeschichte. Bei Bondy reichen die Gedichtformen in teils freiryhthmi­schen, teils gereimten Versen mit regel­mäßigem Metrum von umfangreichen Versepen über Zyklen bis hin zu Einzeilern, die oft aphoristi­schen oder scheinbar banalen Charakter haben. Lange Passagen des achtzigseitigen Poems Naivität etwa sind nichts anderes als eine philosophische Schrift mit Zeilenbruch. Andere Gedichte wiederum stehen in der euro­päischen Tradition des Non­sens.


"Was hatte Baudelaire es leichter!
Haschisch damals erreicht' er
Und was macht Robespierre?
Sitzt auf wackligen Equipagen
Schmerzen ihn beide Visagen"



Ohne falsche Bescheidenheit dichtete er:


"LEUTE DIE BONDY KENNEN
werden nicht gleich einfach etwas anderes lesen
Denn wo zeigt sich in solcher Schönheit
unser Dasein?"



*

Jetzt hat der kleine, aber bis zum Risiko des ökonomischen Suizids literarisch ambitionierte Guggolz Verlag Egon Bondys Erinnerungen Die ersten zehn Jahre in der Übersetzung von Eva Prosoufová und ergänzt durch von Jan Faktor ausgewählte Gedichte des Autors herausgebracht. Es geht um die späten vierziger, frühen fünfziger Jahre, geschrieben wurde das Buch allerdings erst 1981. Wie fast stets, wird die Autobiographie erst interessant, weil sie, außer über den damals noch sehr jungen Verfasser selbst, etwas über die Gesellschaft und, in diesem Fall, die künstlerische Avantgarde in der Nachkriegs-Tschechoslowakei aussagt. Details dürften für die meisten deutschen Leser mehr Andeutung als sinnlich nachvollziehbar sein, aber atmosphärisch ähneln sie durchaus Schilderungen aus Künstlerkreisen in anderen Ländern. Eine zentrale Rolle spielen die tschechischen Surrealisten, die hierzulande beschämend unbekannt sind und die, als Maler, Schriftsteller und Theoretiker, locker den Vergleich mit ihren Kolleg*innen in West- und Osteuropa aushalten. Jan Faktor listet in seinem Nachwort eine ganze Reihe von Persönlichkeiten aus aller Welt auf, mit denen man Bondy nach seiner Meinung nicht vergleichen kann. Dafür überstrapaziert auch er den Begriff des Underground. Wenn man damit Literatur meint, die nicht oder nur mit Schwierigkeiten veröffentlicht werden konnte, umfasst das einen großen Teil bedeutender Werke aus dem Einflussbereich der Sowjetunion. In diesem Verständnis hätte auch Hrabal einige Jahre zum Underground gezählt. Als Kennzeichnung eines Stils taugt der Begriff wenig, zumal wenn man die Musik, wo er noch verbreiteter war, mitdenkt. Der Gestus von Bondys Memoiren ist frech, frivol, antibürgerlich. Reicht das für die Zuordnung zum Underground? Mit gleicher Berechtigung könnte man an die Wiener Gruppe denken, die wohl niemand als Underground klassifizieren würde, an die französischen Pataphysiker oder, mit einer zeitlichen Verschiebung von drei Jahrzehnten, an die Petrograder Serapionsbrüder. Sie sind jedenfalls von Egon Bondy nicht weiter entfernt als die von Jan Faktor in der Nachfolge von Martin Machovec herbeizitierte Beat Generation der USA.

Der potentielle Leser bilde sich eine eigene Meinung. Mit den ersten zehn Jahren kann er jetzt Egon Bondy kennenlernen. Dem Verlag kann man nur Glück wünschen. Mit Allen Ginsberg hätte er es wohl leichter.


Thomas Rothschild – 10. Mai 2023
ID 14188
Verlagslink zu Die ersten zehn Jahre von Egon Bondy


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