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Sachbuch

Die Slaven

aus der Sicht

des 19. Jahrhunderts





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Es gibt wohl kaum einen halbwegs belesenen Zeitgenossen, der kein Werk von Shakespeare, Molière oder Cervantes kennt. Adam Mickiewicz (1798-1855) aber, der Nationaldichter Polens – immerhin eines unmittelbaren Nachbarn von Deutschland –, dürfte den meisten selbst dem Namen nach Terra incognita sein. Sein Pan Tadeusz von 1834 kann neben Puschkins Eugen Onegin und Goethes Hermann und Dorothea als bedeutendster Versroman der neuzeitlichen europäischen Literatur gelten. Und der vierteilige Dramenzyklus Dziady (Totenfeier) von 1823-32 hat für Polen einen ähnlichen Stellenwert wie Grillparzers König Ottokars Glück und Ende für Österreicher.

1832, nach dem polnischen Novemberaufstand, emigrierte Mickiewicz nach Paris, wo er von 1840 bis 1844 am Collège de France Slavistik lehrte – ein Weg, auf dem ihm sein tschechischer Kollege Milan Kundera mehr als hundert Jahre später gefolgt ist: soviel zum Thema Fortschritt der Menschheit. Mickiewiczs Pariser Vorlesungen über die slavische Literatur und ihre Kontexte füllen drei dicke Bände, die Brill Ɩ Schöningh jetzt in prächtiger Aufmachung nach 174 Jahren seit der ersten deutschsprachigen Ausgabe neu herausgebracht hat. Wo findet man heute einen Gelehrten, eine Gelehrte, die Literaturgeschichte so minutiös, so detailfreudig betriebe? Man bedenke: Dostojevskij, Tolstoj und Turgenjew, Němcová und Jan Neruda hatten noch keine Zeile geschrieben, Tschechow, Krleža und Ivan Vazov waren noch nicht geboren, als Mickiewicz seine Vorlesungen abschloss. Wie viele Bände benötigte ein Nachfolger heute für solch ein Vorhaben?

Der Umfang erlaubt Mickiewicz zahlreiche Exkurse, beispielsweise über den Einfluss der Musik auf die Poesie. Es wird deutlich, dass er aus den historischen Bedingungen seiner Zeit heraus argumentiert und sich bewusst ist, zu wem er spricht: zu einem westlichen Publikum, dem er die slavische Welt im Allgemeinen und Polen im Besonderen erst nahe bringen muss. Das anhaltende Lesevergnügen verdankt sich nicht zuletzt der, auch in der Übersetzung erhaltenen, eleganten und gut verständlichen Sprache. Dass Mickiewicz seine Vorlesungen auf Französisch hielt, ist nicht ganz so überraschend, wie es scheinen mag. Gebildete Polen seiner Zeit sprachen in der Regel auch daheim fließend Französisch.

Weder geht Mickiewicz streng chronologisch vor, noch trennt er die verschiedenen slavischen Literaturen konsequent voneinander. Vielmehr lässt er sich, erstaunlich modern, von übergreifenden systematischen Gesichtspunkten leiten. Nicht zufällig steht die „slavische Literatur“ im Titel im Singular. Das rückt den Polen im Exil in die Nähe der russischen Slawophilen, deren Gegnerschaft zu den „Westlern“, wie wir gerade dieser Tage wieder sehen, bis heute eine Rolle spielt.

Den Begriff „Kontexte“ im deutschen Titel der Vorlesungen muss man ernst nehmen. Sie gehen weit über eine Literaturgeschichte hinaus, zu einer allgemeinen Geschichte der slavischen Völker und Staaten. Dass Mickiewicz einem Landsmann wie dem Renaissancedichter Jan Kochanowski breiteren Raum widmet, steht dazu nicht im Widerspruch. Auffallend ausführlich, über mehrere Vorlesungen hinweg, analysiert Mickiewicz die wenige Jahre zuvor anonym erschienene Nie-Boska komedia (Die Un-Göttliche Komödie) von Zygmunt Krasiński.

Eins allerdings muss gesagt werden: Wer, wie es heute gang und gäbe ist, nach Ideologemen fahndet, die ihm vom gegenwärtigen Standpunkt aus nicht gefallen, sollte es lieber bleiben lassen. Man muss schon bereit sein, einen 180 Jahre alten Text als solchen zu begreifen. Wer Mickiewicz übel nimmt, dass er nicht das Bewusstsein von 2023 hat, ist, mit Verlaub, ein Trottel. Zugleich aber kann man bei der Lektüre der Vorlesungen mit Erstaunen feststellen, wie viele Fragen bis heute aktuell, wie viele Antworten, wenn nicht überzeugend, so doch anregend geblieben sind. Wer sich darauf einlässt, kann nur gewinnen.


Thomas Rothschild – 29. September 2023
ID 14408
BRILL-Link zu den
Pariser Vorlesungen von Adam Mickiewicz


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