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Filmkritik

Fatih Akins Armenier-Drama



Bewertung:    



„Es war einmal, es war keinmal...“ beginnen alle türkischen Märchen, und auch Fatih Akin stellt diese Zeilen seinem neuen Film The Cut über den Leidensweg eines armenischen Schmieds aus der mesopotamischen Stadt Mardin voran. Das soll nicht heißen, dass dessen Geschichte etwa nur ein Märchen wäre. Akin will damit wohl eher ausdrücken, dass das Drama der im Ersten Weltkrieg vom Osmanischen Reich verfolgten und ermordeten Armenier für diese bittere Tatsache ist, wohingegen man in der Türkei auch heute noch nicht von einem Genozid sprechen will. Nach dem Scheitern eines Filmprojekts über das Leben des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, der 2007 von einem jungen türkischen Nationalisten erschossen wurde, entschloss sich Fatih Akin, einen Film über den Völkermord an den Armeniern zu drehen.



The Cut - Foto: Gordon Muehle © bombero int. / Pandora Film Verleih 2014


Es ist dem in Hamburg aufgewachsene Regisseur mit türkischen Wurzeln eine Herzensangelegenheit gewesen. Das Projekt stand dann aber wohl von Anbeginn unter keinem besonders guten Stern. Schon im Vorfeld gab es Widerstand aus der Türkei. Und so wie Akin von dort wegen Verrats angefeindet wurde, ist auch die Kritik in Deutschland bisher nicht gerade zimperlich mit dem Regisseur umgegangen. The Cut lief bereits im September im Wettbewerb des Filmfestivals Venedig. Man warf Fatih Akin vor, sich mit dieser Mammutproduktion übernommen zu haben, gänzlich unpolitisch zu sein und Hollywoodkino in CinemaScope zu machen. Und das sicher nicht nur, weil er sich den aus Armenien stammenden Drehbuchautor Mardik Martin, einen ehemaligen Mitstreiter Martin Scorseses, mit an Bord geholt hatte.

Noch zu Beginn, 1915 in seiner Heimatstadt Mardin, ist Nazaret Manoogian (Tahar Rahim) ein sehr religiöser Christ, dessen Namen nicht umsonst an die Geburtsstadt des Erlösers erinnert, wie sich später noch herausstellen wird. Aber schon hier in Nazarets glücklichem Familienidyll mit Frau und Töchtern beginnt sich bereits der Schatten des Kriegs über das bisher friedliche Zusammenleben von Armeniern und Türken zu legen. Es ist von Osterlämmern die Rede, und Kraniche am Himmel sind ein Zeichen für eine gemeinsame lange Reise. Wie über Nacht werden dann Minderheiten zu Fremden erklärt. Zuerst holen die türkischen Soldaten die armenischen Männer aus ihren Häusern, später wird Nazaret in der Wüste die Trecks von Frauen, Kindern und Alten vorbei ziehen sehen. Da ist er selbst mit den Männern seiner Stadt bei der Zwangsarbeit für die Bagdadbahn durch die Wüste.

Man kann dies allerdings nur erahnen. Fatih Akin lässt zwar nichts aus, sein Held durchläuft alle Stationen des systematischen Völkermords an den Armeniern, der Film enthält sich aber fast durchweg jeder politischen Erklärung oder gar Stellungnahme. Als Schlusspunkt seiner mit Gegen die Wand begonnen Trilogie "Liebe, Tod und Teufel" erzählt Fatih Akin in The Cut mittels hoch emotionalen Bilder vom Martyrium des Schmieds Nazarets, der in Folge fast seine gesamte Familie verliert, auf wundersame Weise selbst überlebt und bei einem Massaker nach einem halbherzigen Schnitt eines mit Skrupel behafteten türkischen Häftlings in seinen Hals nun stumm auf einen Leidensweg geht, der dem des gottgeprüften Hiob nahe kommt. Dieser Schnitt oder Cut durchtrennt ihm nicht nur die Stimmbänder, er ist ein nachwirkender Einschnitt in das Weltverständnis eines gottesfürchtigen Mannes, der schließlich zum Bruch seines gesamten Wertesystems führt.

Den Glauben an Gott verliert Nazaret spätestens im berüchtigten osmanischen Konzentrationslager von Raʾs al-ʿAin an der syrischen Grenze. Wie in einer Art verkehrten Pieta fleht ihn hier die Witwe seines getöteten Bruders Hrant an, sie zu erlösen. Bei dem Versuch, nach der Tat sich das tätowierte Kreuz vom Handgelenk zu kratzen, muss man unweigerlich an die Stigmata Christi denken oder an die Parallelen zum jüdischen Volk mit den eintätowierten KZ-Nummern. In Nelly Sachs Gedicht Hiob heißt es: "Und wenn diese meine Haut zerschlagen sein wird / so werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen." Für Nazaret kann es diesen Gott nicht mehr geben. Oder [wieder Nelly Sachs:] "Zu den Würmern und Fischen ist deine Stimme eingegangen." Mit diesem Film versucht Fatih Akin den Ungehörten eine Stimme zu geben. Dass dies nicht zum Theodizeeschinken wird, verdankt der Film seiner Hauptfigur, die stoisch ihren Weg geht. Einzig von der Liebe zu seinen Töchtern angespornt weiterzuleben.





Letztendlich geht es Akin auch nicht nur um einen Helden, der stumm leidet, sondern darum, was ihm in Worten und Taten der Anderen widerfährt. Wobei diese Figuren dann immer wieder auch sehr eindimensional gezeichnet sind. Auf seiner Odyssee durch die syrische Wüste trifft Nazareth auf wohlmeinende türkische Deserteure, wird von Beduinen wieder aufgepäppelt und landet schließlich im Wagen eines hilfsbereiten arabischen Seifenmachers, versteckt in der Stadt Aleppo. Ein Anlaufpunkt und Asyl für viele weitere Überlebende. Hier bekommt der Film eine Atempause und andere freundlichere Bilder - z.B. wenn Nazaret in einem Freiluftkino sitzt und sich gebannt die ersten laufenden Bilder seines Lebens (Teufelswerk, wie eine arabische Frau versichert) ansieht. Es ist der Stummfilm The Kid mit Charly Chaplin (in der Rolle des Tramps) mit seiner Vaterliebe zu einem Waisenkind. Auch eine Hommage Akins an die Anfänge des Kinos und dessen empathische Wirkung großer Bilder.

Als er nach dem Krieg erfährt, dass seine beiden Töchter noch am Leben sind, setzt Nazaret seine Reise auf der Suche nach ihnen durch syrische Huren- und libanesische Waisenhäuser, über Kuba, Florida und Minneapolis bis in den amerikanischen Westen nach North Dakota fort. Auch dort sind die Menschen leicht in Gut und Böse zu unterscheiden. Und auch Nazaret steht vor der Entscheidung, wie weit er für das Erreichen seines Ziels gehen will. Fatih Akin zeigt hier nun das schwere Schicksal eines illegalen Migranten zwischen harter Arbeit, Ausländerhass und der Schwierigkeit selbst Mensch zu bleiben.

Viel Herzblut hat Fatih Akin investiert, was man dem Film nun auch ansieht. Letztendlich sind dem Regisseur dabei wohl auch ein wenig die Distanz zum schwierigen Thema und das Vertrauen in die eigene Kunst des Erzählens abhandengekommen. Die Wucht seines früheren, direkten, ungeschliffenen Stils vertauscht er hier mit der fast erschlagenden Wucht emotionaler Bilder und Symbole. Akin will viel, vielleicht zu viel. Mit der rastlosen Zielstrebigkeit seines Helden verliert der Film irgendwann das eigentliche Ziel aus den Augen. Was Nazaret schließlich findet, ist zumindest ein spätes Glück und einen Ort für seine Trauer.



The Cut - Foto: Gordon Muehle © bombero int. / Pandora Film Verleih 2014


Stefan Bock - 16. Oktober 2014
ID 8170
THE CUT (D/F/PL/TR/CDN/RUS/I 2014)
Regie: Fatih Akin
Drehbuch: Fatih Akin, Mardik Martin
Kamera: Rainer Klausmann
Setdesign: Allan Starski
Kostüm: Katrin Aschendorf
Maske: Waldemar Pokromski
Schnitt: Andrew Bird
Musik: Alexander Hacke
Besetzungsliste:
Nazaret Manoogian ... Tahar Rahim
Krikor ... Simon Abkarian
Omar ... Nasreddin Makram J. Khoury
Rakel ... Hindi Zahra
Hagob Nakashian ... Kevork Malikyan
Mehmet ... Bartu Küçükçağlayan
Arsinée und Lucinée ... Zein und Dina Fakhoury
Leiterin Waisenhaus ... Trine Dyrholm
Frau Nakashian ... Arsinée Khanjian
Hrant ... Akin Gazi
Levon ... Shubham Saraf
Vahan ... George Georgiou
Ani ... Arévik Martirossian
Lucinée ... Lara Heller
Peter Edelman ... Moritz Bleibtreu


Weitere Infos siehe auch: http://www.pandorafilm.de/filme/the-cut.html


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