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Hollywood

Der Detektiv

im menschlichen

Dilemma



Bewertung:    



Die Krimiautorin Agatha Christie war eine eigenwillige Dame, und es dauerte 40 Jahre, bevor sie die Erlaubnis erteilte, dass ihr 1934 erschienener Krimi Mord im Orient Express verfilmt werden durfte. Als der Meisterregisseur Sidney Lumet das Werk 1974 in Angriff nahm, war das Staraufgebot kaum zu übertreffen. Lumet hielt sich so getreu wie möglich an die Vorlage, und die betagte Autorin war damals soweit zufrieden. Noch einmal über 40 Jahre später eröffnen sich deutlich mehr Freiheiten, und Kenneth Branagh, der nicht nur die Regie führt, sondern auch die Hauptrolle des Hercule Poirot, „des wahrscheinlich besten Detektivs der Welt“, spielt, nutzt diese geschickt. Die Fußstapfen, in die er tritt, sind allerdings riesig, sowohl Agatha Christie als auch die Verfilmungen ihrer Romane (insbesondere die mit Hercule Poirot und Miss Marple) haben Kultstatus. Doch Branagh hat im Buch ein Potential erkannt, das der amerikanische Drehbuchautor Michael Green (Blade Runner 2049) schon sehr fein herausgearbeitet hatte.

Christie wurde durch die Entführung des Lindbergh-Babys zu dem Roman angeregt. Charles Lindbergh war ein Nationalheld, nachdem er als Erster mit seinen Flugzeug alleine den Atlantik überquert hatte. Im Jahr 1932 wurde sein 20 Monate alter Sohn entführt und umgebracht, was eine Schockwelle auslöste. Zwar hatte es damals eine Hinrichtung gegeben, aber der Fall wurde nie restlos aufgeklärt. - Danach ließ Christie ihren berühmten Detektiv Poirot mit dem Orient Express fahren, auf dem sich ein mysteriöser Mordfall ereignet. Ein Amerikaner namens Ratchett (Johnny Depp) ist betäubt und mit zwölf Messerstichen getötet worden, und es dauert nicht lange, da entdeckt Poirot die wahre Identität des Opfers. Er hieß Cassetti und war der Entführer und Mörder der kleinen Daisy Armstrong, ein Verbrechen, das großes Aufsehen erregt hatte und nie richtig gesühnt worden war. Poirot findet viele Spuren, die zu keinem Ergebnis führen, und der Detektiv kommt mit seinen berühmten grauen Zellen nicht weiter. Er vermutet nur, dass einer der Fahrgäste der Mörder sein muss, aber wer?



Hercule Poirot (Kenneth Branagh) steht vor einem Rätsel und kann den Mörder nicht identifizieren. ( v.l.n.r. - stehend: Olivia Colman, Josh Gad, Willem Dafoe, Daisy Ridley, Tom Bateman, Michelle Pfeiffer, Derek Jacobi, Leslie Odom Jr., Penelope Cruz, Johnny Depp / Sitzend: Judi Dench, Kenneth Branagh) | (C) Twentieth Century Fox


Branaghs Neuverfilmung beginnt in Jerusalem (bei Agatha Christie ist es Syrien), wo Poirot aufgrund seiner grauen Zellen einen schwierigen Fall lösen kann. Wir erleben ihn als präzise, fast pedantisch und überzeugt von dem Unterschied zwischen gut und böse. Alles muss seine perfekte Balance haben, glaubt er. Der Mordfall Ratchett/Cassetti stellt dieses Weltbild in Frage. Der Mord an dem Baby war kein singuläres Ereignis. Daisys Mutter war damals schwanger, verlor ihr Kind und starb dabei. Ihr Ehemann beging Selbstmord, ebenso eine unschuldig verdächtigte Angestellte. Und so sucht Poirot nach Verbindungen der Verdächtigen zur Familie Armstrong. Einzig die Prinzessin Dragomiroff (Judi Dench) schien die Armstrongs zu kennen und war sogar eng mit ihnen befreundet. Doch die alte Dame ist viel zu schwach, um die Bluttat begangen zu haben. Zwölf Stichwunden, einige nur Kratzer, drei davon tödlich, zwölf Männer und Frauen, die für die Tat in Frage kommen, die aber alle ein Alibi haben; dem Detektiv raucht der Schädel.

Es ist gut, dass Poirot Zeit hat, denn durch eine Lawine ist der Zug aus den Schienen gesprungen und die Fahrgäste sind mitten im Nirgendwo auf einer Eisenbahnbrücke eingeschneit. In dieser Extremsituation, in der keiner flüchten kann, wird jeder mit den Geistern seiner Vergangenheit konfrontiert. Ähnlich wie in Lumets Version hat Kenneth Branagh eine hochkarätige Starbesetzung für den Film, darunter die Theaterstars Judi Dench und Derek Jacobi, der Shootingstar bei den Star-Wars-Verfilmungen Daisy Ridley, die US-Schauspieler Willem Dafoe, Michelle Pfeiffer, die Spanierin Penelope Cruz und viele mehr.

Anders als im Vorläufer setzt Branagh aber nicht auf markante Einzelleistungen seiner Stars. Im Gegenteil agieren sie sehr zurückgenommen, insbesondere Michelle Pfeiffer, deren Rolle als Mrs. Hubbard eigentlich zu wesentlich mehr Extravertiertheit einladen würde. Das wird ersetzt durch ein sehr abgestimmtes und nuanciertes Ensemblespiel, wie es auch der literarischen Vorlage entspricht. Agatha Christies Personen sind aber eigentlich nur Figuren in einem Krimi-Schachspiel, inklusive Hercule Poirot, über den in etlichen Romanen nicht viel zu erfahren ist. Doch Kenneth Branagh dichtet ihm eine Freundin namens Catherine an, ein Leben außerhalb seiner detektivischen Tätigkeit, und lässt ihn in eine tiefe Krise schlittern, worin er deutlich von Christie abweicht. Branagh versucht, aus den Figuren Menschen zu machen, die sehr viel Leid in sich tragen.

Je tiefer Poirot in den Fall eindringt, desto fraglicher wird seine bisherige Weltsicht. Ein Mord ist ein Mord. Oder doch nicht? Keiner weint dem Kindesmörder nach. Und eigentlich ist seine Ermordung eine Vergeltung. Aber keine rechtmäßige, denn es hat ja kein rechtsgültiges Todesurteil gegeben. Wie gerecht wäre es, Ratchetts Mörder zu bestrafen, wenn eigentlich nur das nachgeholt wurde, was der Justiz nicht gelungen war. Ist Selbstjustiz hinnehmbar? So dreht sich der letzte Teil des Films genau um dieses Dilemma. Branagh hat dem spannenden Krimi die Dimension der Traumatisierung durch Straftaten und einen weltanschaulichen Diskurs über Gerechtigkeit hinzufügt.

Mord im Orient Express wurde auf 65-mm-Film gedreht, das ist sehr viel teurer und umständlicher als Digitalfilm, aber kontrastreicher und lebensechter. Branagh setzte das durch, um die Emotionalität zu unterstreichen. Mit dem zypriotischen Kameramann Haris Zambarloukos hat Branagh schon öfter zusammengearbeitet, und auch der Komponist Patrick Doyle ist wieder mit einem großartigen, aber nicht zu übermächtigen Filmscore vertreten. Die Kostüme, die Ausstattung, das Set, der wunderbare Orient Express, die Special Effects: alles zusammen ergibt ein hinreißendes Kinospektakel mit Tiefgang und ist trotz der Abweichungen und Freiheiten eine tiefe Verbeugung vor der großen alten Dame des Krimis.
Helga Fitzner - 8. November 2017
ID 10356
Weitere Infos siehe auch: http://www.fox.de/mord-im-orient-express


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