Verfehlung
und Vergebung
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Bewertung:
Der französische Filmemacher François Ozon traut es sich, sein neuestes Werk Wenn der Herbst naht mit einer Messe anzufangen, in der eine ziemlich befremdliche Bibelstelle besprochen wird, in der es aber darum geht, ob Sünder von Jesus der Vergebung für Wert erachtet werden. Die 80jährige Michelle (Hélène Vincent) lauscht interessiert. Damit stimmt Ozon auf das generelle Thema des Films ein. Zunächst ist die Geschichte ungetrübt. Wir sehen Michelle in ihrem herrlichen Häuschen in der üppigen Herbstlandschaft von Burgund, wie sie Kürbisse und Karotten erntet und diese zu einer Suppe verarbeitet. Sie hat ihr überschaubares Leben im Griff, lebt zwar allein, ist aber mit ihrer Freundin Marie-Claude (Josiane Balasko) eng verbunden, mit der sie sich regelmäßig trifft. Nun hat ihre Tochter Valérie (Ludivine Sagnier) einen einwöchigen Urlaub bei ihr angekündigt und Michelle freut sich vor allem auf ihren geliebten Enkel Lucas (Garlan Erlos).
Während Michelle und Lucas ihr Wiedersehen genießen, treten mit Valérie offene Konflikte zu Tage. Sie wirft der Mutter vergangene Verfehlungen vor, unter denen sie als Tochter leidet. Sie möchte, dass Michelle ihr das Burgunder Grundstück überschreibt, aber die lehnt das ab, weil sie der Tochter schon ihre Pariser Wohnung überlassen hat. Dann kommt es zu einem Zwischenfall. Valérie vergiftet sich an einem Pilzgericht, das Michelle zubereitet hat, sie kann aufgrund der Aussagen der Mutter aber gerettet werden, die die Pilze am Vortag selbst gesammelt hatte. Die Tochter verlässt noch am selben Abend das Krankenhaus und die Mutter, nicht ohne noch 500 Euro zu fordern, damit sie den Rest des Monats übersteht.
Als Konsequenz wegen des Pilzvorfalls darf Michelle ihren Enkel nicht wiedersehen und sie verfällt in eine Depression. Derweil wird Marie-Claudes Sohn Vincent (Pierre Lottin) aus der Haft entlassen. Er muss Arbeit finden und Michelle bietet ihm gut bezahlte Stunden in ihrem Garten an, die er vorbildlich ableistet. Marie-Claude hat sich derselben Verfehlungen schuldig gemacht wie Michelle, aber ihr Sohn verurteilt sie deswegen nicht, obwohl er auf die schiefe Bahn geraten ist. Michelle und Marie-Claude waren beide alleinerziehende Mütter, die sich und ihr Kind durchbringen mussten. Ab dann werden einige Hintergründe offenbart und es geschieht ein Unglück, das dem Rest des Films dann doch ziemliche Spannung verleiht. Wenn der Herbst naht ist insgesamt ein cineastisches Füllhorn an unerwarteten Wendungen mit Verlust und Trauer, aber auch gespickt mit Lebensklugheit, Melancholie, magischen Drehorten in Burgund, wahrhaftig anmutenden Charakteren und herausragenden Mimen.
Ozon hat sich in mehreren Filmen mit dem Thema Schuld und Sühne auseinandergesetzt. In Frantz von 2016 will der Franzose Adrien, der den Deutschen Frantz im Ersten Weltkrieg getötet hat, dessen Eltern um Verzeihung bitten. Um sich ihnen zu nähern, erfindet er die Geschichte einer Freundschaft zwischen Frantz und ihm. Das gibt den durch den Tod des Sohnes gebrochenen Eltern wieder Auftrieb und Hoffnung. Adrien sieht von seinem Geständnis ab, weil die Lüge gnädiger ist als die Wahrheit. - In Gelobt sei Gott von 2019 geht es um den realen Fall von Kindesmissbrauch durch einen katholischen Priester, dessen gerichtliche Aufarbeitung erst nach starkem Druck von Betroffenen zu Stande kam. Das Urteil wurde erst nach Veröffentlichung des Films gefällt und war sicher durch die mediale Aufmerksamkeit mitbestimmt, denn der Triebtäter, den seine Vorgesetzten lange Zeit gewähren ließen, vier bis fünf Kinder pro Woche zu missbrauchen, wurde tatsächlich verurteilt. Einen Teil der Strafe hat er auch in einer Haftanstalt abgesessen. Er starb im Jahr 2024 im Alter von 79 Jahren. In diesem Fall gab es keine gesetzliche Strafe oder Sühne, die proportional zum Ausmaß der begangenen Verbrechen stünde.
In der überbordenden Komödie Mein fabelhaftes Verbrechen von 2023 hat die Geständige den Mord gar nicht begangen, will aber durch die Medienaufmerksamkeit Ruhm erlangen, um als Schauspielerin endlich anerkannt zu werden. Da taucht die wahre Mörderin auf, doch am Ende wird niemand verurteilt. Den ermordeten Fiesling und Vergewaltiger scheint keiner zu vermissen. Dieser Mord ohne Sühne ist eine „Gerechtigkeit“ der anderen Art, aber es ist eine heikle Geschichte, diese „Amoral“ im Prinzip gut zu heißen.
Wenn der Herbst naht ist da wirklichkeitsnaher und Vincent wurde für seine nicht näher bezeichneten Taten verurteilt und hat seine Strafe abgesessen. Was die Verfehlungen der Mütter angeht, sind die mit ihren problematischen Kindern irgendwie schon genug gestraft. Ludivine Sagnier spielt Tochter Valérie als gebrochene Figur, ob sie das nur vor der Mutter vorgibt oder ob es ihr wirklich schlecht geht, wird nicht ganz klar. Und dem Ex-Häftling Vincent glaubt man die Läuterung nicht so richtig, obwohl man keinen Beweis für neuerliche Untaten hat. Lottin spielt ihn wunderbar auf sehr zwielichtige Art. Ozon lässt bewusst einige Fragen offen. Er nimmt sich für die Szenen mit den Pilzen viel Zeit. Ist das „Versehen“ möglicherweise auf Michelles unbewussten Wunsch zurückzuführen, Valérie aus dem Weg zu räumen, um ungehinderten Zugang zu ihrem Enkel zu bekommen? Die Frage wird nicht geklärt, steht aber im Raum. Inwieweit sieht Vincent sich in Konkurrenz zu Valérie um die Gunst von seiner Mutter und Michelle? Seine Mutter Marie-Claude steht zu Valérie, die es immerhin zu einem Ehepartner und einem Kind gebracht hat, auch wenn die Ehe kurz vor der Scheidung steht.
So entstand mit einem hervorragenden Ensemble ein komplexes Geflecht von Familienangelegenheiten und Wahlverwandtschaften sowie dem gesellschaftlichen Problem der alleinerziehenden Mütter, für das Ozon selbst und Philippe Piazzo das originale Drehbuch verfasst haben. Manchmal sind die Pfade zu Vergebung und Selbstvergebung so unergründlich wie die Wege des Herrn.
Nach Valéries Vergiftung muss Michelle routinemäßig eine Aussage bei der Polizei machen. Dort erzählt sie der Polizistin (Sophie Guillemin), dass sie als Mutter immer alles schuld ist. Das bekommen wir hier ständig zu hören, erfährt sie. Die Polizistin ist im sechsten Monat schwanger, wird ihr Kind ohne Vater großziehen und freut sich schon sehr auf ihr Baby. Das Karussell dreht sich weiter.
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Michelle (Hélène Vincent) liebt ihren Enkel Lucas (Garlan Eros) über alles | © 2024 FOZ/FRANCE 2 CINÉMA/PLAYTIME
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Helga Fitzner - 26. August 2025 ID 15428
Weitere Infos unter: https://weltkino.de
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