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Neues deutsches Kino

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Der Drehbuchautor, Regisseur und Produzent Veit Helmer (Jahrgang 1968) ist eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Film, bei dem überwiegend Sozialrealismus oder – in Komödien – karikaturenhafte Überzeichnungen vorherrschen. Helmer hingegen ließ schon in seinen hochgelobten und vielfach prämierten Kurzfilmen wie z.B. Tour Eiffel (1994) oder Surprise! (1995) ein ausgeprägtes Faible für einen verspielten, poetischen Realismus und ein märchenhaftes Ambiente mit surrealer Situationskomik erkennen, den man hierzulande eher dem Kinderfilm vorbehält oder mit Filmen aus ost- und südeuropäischen Ländern verbindet (inzwischen hat er allerdings mit Cleo-Regisseur Erik Schmitt einen Bruder im Geiste). Vielleicht ist das auch der Grund, weswegen Helmer immer wieder das Weite sucht und seine Filme bevorzugt in den mittelasiatischen bzw. vorderorientalischen Ländern dreht und mit süd- und osteuropäischen Schauspielern und Schauspielerinnen besetzt.

Obwohl die handwerklichen Qualitäten und die märchenhaft entrückten Settings seiner bisherigen Spielfilme wie z.B. Tuvalu (1999), Absurdistan (2008) und Baikonur (2011) von der Filmkritik sehr wohl erkannt und geschätzt wurden, gab es immer wieder auch Kritik an den eher (nach-)lässig gestrickten Geschichten, denen eine eindeutige Botschaft oder Moral wie etwa in den Grimmschen Volksmärchen nicht beigemischt ist. Lieber erlaubt Veit Helmer sich und seinen Protagonisten, innerhalb einer markanten, weiträumigen Landschaft und der darin jeweils angesiedelten, in Traditionen eingezwängten Gemeinschaft, umherzuflanieren. Die Figuren suchen dabei Aufmerksamkeit oder gar Anerkennung, Zweisamkeit oder gar Liebe. Daraus ergeben sich Kontraste, Situationskomik und universelle Themen quasi wie von selbst. "Zwingend", wie es in Drehbuchseminaren meist gelehrt wird, ist das nicht, eher unaufdringlich.

Auch in seinem neuen Werk Vom Lokführer, der die Liebe sucht…, das bisher sein kompaktestes und reifstes ist, pfeift Helmer auf realistische Eindeutigkeiten, inszeniert aber geradliniger und zugespitzter als früher. Es ist ein Film, wie ihn nur Helmer ersinnen kann: ohne Dialoge, nur mit Geräuschen und Musik, voller Poesie und skurrilem Personal, perfekt rhythmisiert, aber mit minimaler tragikomischer Handlung, die irgendwo in einem nicht näher definierten Märchenreich zwischen Europa und Indien spielt. Slapstick, pantomimische Einlagen und unschuldig wirkende Pikanterien erinnern an die Stummfilmära und die Grotesken der tschechisch-slowakischen "neuen Welle". Tatsächlich simuliert Helmer mithilfe digitaler Tricks Abnutzungsspuren, als würde der Film aus einer viel älteren Zeitperiode stammen.

Kamera und Schnitt (beides: Felix Leiberg) sind allerdings zeitgemäß, doch die Story wirkt aus der Zeit gefallen bzw. der Gegenwart entrückt. Die uns hierzulande umzingelnden Endgeräte mit ihren medialen Verheißungen tauchen bei Helmer höchstens als unbedeutende Dekorationen auf. Stattdessen gibt es Retro-Steampunk im wörtlichen Sinne: Der brave Lokführer Nurlan (auch stumm genial: Miki Manojlovic) rattert mit seinem nicht enden wollenden Güterzug tagein, tagaus durch die Weiten Aserbaidschans und auch mitten durch die enge Gasse einer kleinen Stadt. Ein Junge, der in einer Hundehütte lebt, erhält über den herannahenden Zug jeweils als erster Auskunft und rennt dann los, damit die Menschen die Gasse freiräumen, in der sie Wäsche aufhängen, Tische aufbauen und herumsitzen und die Kinder spielen. Jedesmal klebt nach der Fahrt an der mächtigen Nase des Zuges eine Trophäe, meist ein Wäschestück oder Spielzeug, das Nurlan auf dem Weg nach Hause dem Besitzer zurückgibt.

Eines Nachts erhascht Nurlan einen flüchtigen Blick auf eine Frau am Fenster, die im Begriff ist, sich auszuziehen – ein Traumbild? Nicht ganz, denn ihr bestickter, hellblauer BH klebt bald darauf am Zug. In einer Umkehrung des Aschenputtel-Märchens begibt sich der inzwischen pensionierte Lokführer ins Städtchen, wo er geduldig und mithilfe des kleinen Jungen nach jener Frau sucht, der der blassblaue BH passt. Selbst Heteromänner mit wenig Fantasie wissen, wie fix manche fixe (erotische) Fantasie sein kann. Die Begegnungen Nurlans mit den verschiedenen Frauen (unter anderem gespielt von der Spanierin Paz Vega, der Rumänin Irmena Chichikova und der Deutschen Maia Morgenstern) sind eher im Dienste des Amüsements denn ethnologisch korrekt ausgerichtet: mal gerät er an flehende Witwen, mal an freche Mütter und Töchter, mal an verführerische Singlefrauen mit eifersüchtigen Männern.

In einem Film voller Merkwürdigkeiten darf ein Unikum wie der knautschgesichtige Franzose Denis Lavant nicht fehlen, der als Geräusche-komponierender Lokfahrer seinen Teil zum harmonischen Taktgefühl des Films beiträgt. Bei der Berliner Premiere berichtete Regisseur Veit Helmer, dass sich die Dreharbeiten wegen der zunächst unsicheren Finanzierung (stummer Film und BH-Schnitzeljagd waren strategische Nachteile) lange hinzogen. Die schmale Gasse mit den Gleisen gibt es so nicht mehr, sie stand in einem kleinen Ort nahe der Hauptstadt Aserbaidschans, Baku. Der Dreh war ein Kampf gegen die Zeit bzw. die Abrissbirne. Auch in Kasachstan sollte gedreht werden, aber das Team musste ins ebenfalls sehr gebirgige Georgien ausweichen. Dass Helmer die Mühen auf sich nahm, hat sich für den Film gelohnt. Er ist ein wunderschön anzuschauendes, sympathisch unzeitgemäßes Unikat der Poesie, Sinnlichkeit und Menschenfreundlichkeit.



Vom Lokführer, der die Liebe suchte... | (C) Neue Visionen Filmverleih

Max-Peter Heyne - 7. März 2019
ID 11265
Weitere Infos siehe auch: http://vom-lokfuehrer-der-die-liebe-suchte.de/


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