Zwischen Karneval
und Korruption
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Bewertung:
Die Leiche vor der Tankstelle muss schon seit Tagen dort liegen, aber der Reisende (Wagner Moura), der im gelben VW-Käfer dort vorfährt, muss anhalten, weil sein Tank fast leer ist. Vom Tankwart erfährt er, dass die Polizei schon informiert ist, den Leichnam aber wegen des Karnevals noch nicht abgeholt hat. Wie aus dem Nichts taucht auf der Landstraße ein Streifenwagen auf. Das Hemd eines der Polizisten weist Blutspuren auf, und sie kontrollieren den Käfer-Fahrer und sein Fahrzeug gründlich ohne etwas zu finden. Da sie ihm kein Knöllchen anhängen können, bitten sie um eine Spende für den Polizei-Karneval. Dann ziehen sie wieder ab, ohne sich um den Toten zu kümmern.
Mit dieser Eingangssequenz setzt der brasilianische Regisseur und Drehbuchautor Kleber Mendonça Filho den Ton für seinen Spielfilm The Secret Agent, der im Jahr 1977 überwiegend in der brasilianischen Küstenmetropole Recife spielt und der allein beim Filmfestival in Cannes vier Preise eingeheimst hat, darunter die Hauptpreise für die Beste Regie und den Besten Hauptdarsteller. Der Filmemacher wurde 1968 geboren und hat die Zeit der Militärdiktatur (1968-1985) selbst erlebt. Mit der Hauptfigur des Marcelo hat er einen mysteriösen Charakter entworfen, dessen Geschichte sich nur schemenhaft und allmählich innerhalb der über zweieinhalb Stunden dauernden Handlung offenbart. Die Rolle hat er dem fantastischen Wagner Moura auf den Leib geschrieben.
Marcelo musste untertauchen, weil er von einem Korruptionsskandal an seiner ehemaligen Universität weiß und als Zeuge für die Täter unbequem wäre. Nun traut er sich während des riesigen Wirbels beim Straßenkarneval nach Recife, um seinen kleinen Sohn Fernando (Enzo Nunes) zu besuchen, der dort bei den Eltern seiner verstorbenen Frau lebt. Er will mit ihm das Land verlassen, aber da erfährt er, dass man mittlerweile Auftragskiller auf ihn angesetzt hat, weswegen er aufgrund eines höchstwahrscheinlichen Suchbefehls unter seinem echten Namen keine Auslandsreisen unternehmen kann. Die geheimnisvolle Elza (Maria Fernanda Candido) will ihm zu einem gefälschten Pass verhelfen, damit er sich in Sicherheit bringen kann...
Mendonça Filhos Filmhandlung spielt sich zwischen zwei Polen ab. Er zeigt die Korruption, Gewissenlosigkeit und Straffreiheit, mit der Mörder ihr Werk verrichten, die völlige Wertlosigkeit eines Menschenlebens in deren Augen und die Blutrünstigkeit dieses Geschäfts. Dabei geht es stellenweise skurril zu. Es wird ein riesiger Hai gefunden, in dessen Magen sich das Bein eines Menschen befindet, den man nicht ganz zum Verschwinden gebracht hat. Die Zeitungen machen einen Cartoon daraus und erfinden ein behaartes Bein, das willkürlich auf alle eintritt, die ihm im Wege stehen. Ein Ulk für die einen, eine Metapher für das totalitäre Regime für andere.
Der zweite Pol ist ein geheimes solidarisches Netzwerk, das Menschen hilft, die vom Regime verfolgt werden. Marcelo kommt im Haus der betagten und resoluten Sebastiana (Tânia Maria) unter, in dem sich eine bunte Mischung aus Menschen im Untergrund befindet. Es gibt etliche beherzte Bürger, die versuchen diesen Verfolgten zu helfen, und so findet Marcelo unter falschem Namen tatsächlich einen Job. Die Arbeit dieser Gemeinschaft funktioniert sehr gut, aber Wunder vollbringen kann sie nicht. Mendonça Filho hat beide Gruppierungen sehr sorgfältig mit einzigartigen Typen besetzt, die in ihrem jeweiligen entgegengesetzten Mikrokosmos leben.
Dabei hat er auch eigene Kindheitserinnerungen einfließen lassen. 1977 kam Der weiße Hai von Steven Spielberg in die Kinos, aber der kleine Kleber war mit neun Jahren noch zu jung, um ihn sehen dürfen, was auch für den fiktiven Sohn von Marcelo gilt. Das Kinoplakat allein fasziniert ihn so, dass er es malt. Mendonca Filhos Werk ist gespickt mit filmgeschichtlichen Referenzen und weist eine erkennbare Affinität zu Quentin Tarantino auf, gerade in der Schilderung der krassen Untaten der Mörder. Marcelos Schwiegervater Alexandre (Carlos Fransciso) ist Filmvorführer, und wir erleben ihn mehrfach bei der Arbeit, was an Cinema Paradiso erinnert. Während viele Brasilianer in den Kinos und beim Straßenkarneval das Leben feiern, bangen einige Dissidenten um ihr Leben, und der Filmemacher enthüllt dabei die korrupten Machtstrukturen der Militärdiktatur und die sozialen Missstände im Lande. Dabei hat er besonderen Wert auf die Besetzung auch der kleinen Nebenrollen mit großartigen und illustren Charakteren gelegt, die auch die multikulturelle und multiethnische Zusammensetzung der Bevölkerung widerspiegeln, darunter Udo Kier als depressiver jüdischer Emigrant aus dem Dritten Reich, der sich nun wieder in einem totalitären Regime befindet.
Eine Handlungsebene in der Gegenwart zeigt zwei junge Studentinnen, die Bänder abhören, in denen Marcelo Aussagen macht, was Teil der Aufarbeitung der Geschichte ist. Es hat sich in Lateinamerika das Genre des Diktaturfilms entwickelt, doch Mendonca Filhos Werk geht darüber hinaus, er ist auch ein (Un-)Sittengemälde der damaligen Gesellschaft. Wie kürzlich Walter Salla mit Für immer hier zeigt er, wie zersetzend der Druck, die Angst, die Gewaltausübung und die Einschränkungen sein können.
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Im Unterschlupf hat sich eine Vielzahl unterschiedlicher Verfolgter zusammengefunden | © Port au Prince Pictures
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Helga Fitzner - 5. November 2025 ID 15546
https://port-prince.de/projekt/the-secret-agent/
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