Ein erotisches 
  Denkvergnügen!?
 
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 Der Filmemacher Edgar Reitz ist fasziniert von dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), dem er schon seit zehn Jahren ein filmisches Denkmal setzen wollte. Der ursprüngliche Plan, dessen Lebensgeschichte zu verfilmen, scheiterte an den veranschlagten Kosten von 25 Millionen Euro für einen aufwendigen barocken Kostümfilm, die für einen Autorenfilmer unerschwinglich sind. Zusammen mit seinem Co-Autor Gert Heidenreich arbeitete Reitz immer wieder an einem Skript, in dem weniger Drehorte und Personen vorkamen, aber die zündende Idee kam erst mit einer partiell fiktiven Geschichte und drei erfundenen Charakteren, durch die es gelang, sich der Quintessenz des Universalgenies dann doch anzunähern. Reitz erinnert sich: 
 
 
 „Auf einmal spürten wir den Tiefensog, den der neue Erzählansatz entwickelt. Statt in die Breite ging es nun auf den Grund aller Gründe.“
 
 
 Leibniz war zu umtriebig und vielschichtig, um ihm innerhalb eines abendfüllenden Films gerecht werden zu können. Analog dazu dreht sich der Film Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes um die Entstehungsgeschichte eines Gemäldes von Leibniz und die Frage, ob die Malkunst die Einmaligkeit (s)einer Person erfassen kann. Genau diese Problematik wird erörtert und im Verlauf werden die Persönlichkeit von Leibniz und einige seiner Errungenschaften illustriert. 
 
 Die Preußenkönigin Sophie Charlotte (Antonia Bill) ist eine wissenschaftlich äußerst begabte Frau, die ihren einstigen Lehrmeister Leibniz (Edgar Selge) vermisst und sich ein Porträt von ihm wünscht, mit dem sie stellvertretend für ihn ihre Ideen austauschen kann. Ihre Mutter Kurfürstin Sophie von Hannover (Barbara Sukowa) beauftragt den (fiktiven) Maler Delalandre (Lars Eidinger) damit, der sich aber der höfischen Porträtmalerei verpflichtet fühlt, in der es nicht darum geht, das Fluidum der gemalten Person einzufangen, sondern seinen gesellschaftlichen Status hervorzuheben. Leibniz möchte für Sophie Charlotte aber ein Bild, in dem der menschliche Aspekt im Vordergrund steht. Delalandre ist ein eitler Fatzke und irgendwann des ständigen philosophischen Geplänkels  mit Leibniz müde, bei dem er nicht mithalten kann. Empört verlässt er eines Tages das Schloss: „Ihr seid kein Freund der Kunst“, schimpft er, „aber ein großer der Freund der Wahrheit“, ruft Leibniz ihm nach. Kurfürstin Sophie findet einen anderen Maler,  Aaltje Van De Meer (Aenne Schwarz), eine (fiktive) Malerin, die sich als Mann ausgeben muss, weil die Kunstakademie nur Männer zulässt. 
 
 Leibniz ist überrascht, dass sie keine weiße, sondern eine dunkle Leinwand benutzt. Van De Meer erklärt, dass sie das Licht male, und schwärmt von Caravaggio, der sich vom Dunkel ins Licht gearbeitet hätte. Leibniz ist hocherfreut: „So sollten wir leben.“ (Der fiktive Name Van De Meer erinnert an Jan Vermeer, der ebenfalls für seine Hell-Dunkel-Malerei berühmt wurde). Bei Van De Meer muss Leibniz nicht stillstehen, sondern darf sich bewegen. Er soll aus seiner Kindheit erzählen, was er angeregt tut und die Malerin bedankt sich für diesen „Blick in die Seele.“  „Mir macht das Nichts-zu-wissen Angst“, gesteht der Gelehrte: „Es muss einen Grund für alles und jedes gegeben haben, für das es vorher keinen ursächlichen Grund gegeben hat – außer sich selbst“, philosophiert er. Van de Meer antwortet ungerührt: „Was ich nicht weiß, kann ich malen.“ Leibniz meint erstaunt: „Ja?“ „Der Grund für die Kunst ist die Kunst selbst“, erläutert sie, was in diametralem Gegensatz zur zweckorientierten höfischen Porträtmalerei steht. Er hört ihr genau zu, wenn sie über Zeit und Raum in der Kunst sprechen und überdenkt seine eigenen Theorien.
 
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 Der von Reitz entworfene Leibniz ist alles andere als abgehoben, sondern neugierig, den Menschen zugewandt und betreibt die Gründung von Wissenschaftsakademien, in denen Theorie und Praxis miteinander verbunden werden. Sein (fiktiver) Assistent Liebfried Cantor (Michael Kranz) hängt sehr an dem Hofrat und unterstützt ihn gern. Er schwärmt Van De Meer von dessen Errungenschaften vor, zeigt ihr, dass man seinen gepolsterten Stuhl zusammenklappen kann, holt einen Riesenspieß mit vielen Zetteln hervor, auf denen Leibniz' zahlreiche andere Erfindungen festgehalten sind. Dann führt er ihr seine mechanische Rechenmaschine vor, die allerdings nur dreistellige Zahlen rechnen kann. Leibniz kommt dazu und erklärt, dass der Fehler noch nicht gefunden sei. Aber er habe inzwischen das binäre Zahlensystem entwickelt, das mit der Eins und der Null auskommt, (womit er übrigens eine Grundvoraussetzung für die Computertechnologie geschaffen hat). 
 
 Als die Preußenkönigin Sophie Charlotte zu Besuch kommt, sprechen sie über Monaden. Die Urmonade ist für ihn Gott, aus dem alle anderen Monaden hervorgingen. Nur Gott könne sie erschaffen oder vernichten. Die menschliche Seele sei auch eine Monade, damit sei sie ein Spiegel des Universums und ein besonderer Ausdruck göttlichen Allwissens. Alles sei in allem enthalten, aber nichts sei miteinander verbunden. Nach dem Tod komme es zu einer schlafenden Monade, aber es gäbe kein Ende der Entfaltung. Die erkrankte Sophie Charlotte geht gestärkt aus dem Gespräch hervor.
 
 Zwischen Leibniz und Van De Meer besteht ein großer Altersunterschied, und er macht ihr auch nicht den Hof. Doch eines Abends fragt er sie: „Wollen wir ein wenig miteinander denken?“ Reitz erklärt: 
 
 
 „Der Akt des gemeinsamen Denkens bekommt plötzlich eine erotische Komponente. Und die gab es tatsächlich. Leibniz hat immer wieder sinngemäß gesagt, das Denken sei die größte Freude, die es gibt. Sich am Denken eines anderen zu beteiligen, hieße demnach, in die höchste Form gemeinsamer Glückseligkeit einzutauchen. Meine Hoffnung bei diesem Film ist, dass sich mein Publikum mit dieser Glückseligkeit ein bisschen anstecken lässt und dass der Kinobesuch so etwas wird wie die Entdeckung des erotischen
 Denkvergnügens.“
 
 
 Dem 92jährigen Edgar Reitz (berühmt geworden durch seine Filmchroniken Heimat) und seinem Team ist mit dem Leibniz-Film ein großer Wurf gelungen. Die Schauspieler sind durchweg grandios, und hinter der Kamera waren u.a. Co-Regisseur Anatol Schuster, Kameramann Matthias Grunsky und die Cutterin Anja Pohl am Werke. Wie schon in Filmstunde_23 erwähnt, betrachtet Reitz Film als allgemeines Intelligenzmittel und das wird angesichts der allgegenwärtigen Künstlichen Intelligenz als Gegengewicht immer wichtiger. Und was er mit seinem Film Leibnizleistet, ist einfach atemberaubend. In diesem eher kleinen Raum fährt er alles auf, was es an Lichteinflüssen gibt, ohne digitale Spezialeffekte: Normale Schattenbilder, Camera Obscura, Lichtbrechungen durch Spiegel und vieles mehr, was den Film in dieser Vielfalt einzigartig und zu einem anziehenden Augenschmaus der besonderen Art macht. 
 
 Der Film hatte in der Sektion Berlinale Special im Jahr 2025 Premiere. 
 
 
 
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 Der Universalgelehrte Leibniz wird von der Malerin Van De Meer porträtiert | © Ella Knorz 
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Helga Fitzner - 18. September 2025 ID 15468
 
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