Beredtes
Schweigen
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Bewertung:
„Es braucht nur eine Insel im weiten Meer.
Es braucht nur einen Menschen, aber den braucht es sehr.“
Mascha Kaléko
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Der obige Spruch ist das Leitmotiv des Debütfilms Karla der deutsch-griechischen Regisseurin Christina Tournatzés:
Die zwölfjährige Karla Ebel (Elise Krieps) taucht eines Abends auf einer Polizeistation auf und verlangt, einen Richter zu sprechen. Sie will Anzeige erstatten und beruft sich auf § 176 des Strafgesetzbuches - mehr erfährt die Polizei von ihr nicht. Richter Lamy (Rainer Bock) nimmt sich tatsächlich, wenn auch zögerlich, der Sache an, denn das Mädchen ist alleine gekommen, und es geht um Kindesmissbrauch. Der Film basiert auf einem Drehbuch von Yvonne Görlach, die darin die wahre Geschichte einer ihr gut bekannten Frau schildert, die im Jahr 1962 die Justiz vor eine große Herausforderung stellte. Sie wollte ein Ende des Missbrauchs durch den Vater, ohne aber irgendwelche Einzelheiten und Fakten zu benennen. Ohne die konnte ihr aber vor Gericht nicht geholfen werden. Doch das Mädchen schwieg beharrlich. Dabei ging es weniger um Angst, als um Würde und Selbstbestimmung.
Mit Richter Lamy und der jungen Karla prallen zwei unterschiedliche Welten aufeinander, doch wie sich die beiden annähern und voneinander lernen, ist bemerkenswert. Das ist auch Lamys Sekretärin Erika Steinberg (Imogen Kogge) zu verdanken, die sich für das Mädchen einsetzt und den Richter dazu überredet, den Fall anzunehmen. Dabei zitiert sie den obigen Spruch, um ihm klarzumachen, dass er Karlas einzige Chance auf Abhilfe ist. Karla verweigert sowohl eine Aussage als auch eine gynäkologische Untersuchung. Da sie musikalisch begabt ist, kommt er auf die Idee, ihr eine Stimmgabel zu geben mit der Absprache, dass sie die jedes Mal anschlägt, wenn es im Gespräch um unsittliche Berührungen geht, so vage das auch formuliert ist. Trotzdem schätzen Lamy und seine Kollegen den Fall als aussichtslos ein.
Einer der Gründe, warum sich Lamy für Karla einsetzt, ist der, dass sie sich im Mädchenheim wohl fühlt, obwohl sie dort arbeiten muss und dieses von strengen Nonnen geführt wird. Zumindest ist sie dort vor den Übergriffen des Vaters geschützt. Sie freundet sich mit Ada (Carlotta von Falkenhayn) an, die etwas älter als sie ist und im Heim landete, weil sie sich prostituiert hat. Es kommt zu einer Szene, in der Ada Karla sanft über den Handrücken streicht und ihr erklärt, dass sie in Zukunft nur noch so berührt werden will. Die beiden Mädchen haben ihre Hoffnungen und Träume noch nicht verloren. Tournatzés zeigt in Rückblenden glückliche Momente von Karla, wie sie mit ihren Brüdern in der Sonne spielt und es ihr gut geht. Es werden keine Szenen von Missbrauch gezeigt, aber die Aufnahmen, in der Karla in einem See zu ertrinken droht, sind deutlich genug.
Beim diesjährigen Filmfest in München erhielt Yvonne Görlach den Drehbuchpreis und Tournatzés den für die beste Regie. In der Begründung der Jury heißt es:
„Gleich mit ihrer ersten Spielfilm-Regie wagt sich Christina Tournatzés an das Unsagbare und das Unzeigbare. Und doch gelingt es ihr mit bemerkenswerter Sensibilität und ausgeprägtem erzählerischen Gespür, Worte und Bilder zu finden – und dem dunkelsten Abgrund Mut und Menschlichkeit entgegenzusetzen... Dabei orchestriert und dirigiert sie alle filmischen Mittel mit beeindruckender Präzision – von der Schauspielführung über den Schnitt bis hin zu einer subtilen und stets einfühlsamen Bildsprache. Scheinbar beiläufige Reflexionen in einer Autoscheibe, Treppenhäuser, die sich wie Abgründe auftun, Blitze eines Fotoapparats und Stimmen aus dem Nebenzimmer – diese und viele andere grandiose Erzählideen machen KARLA zu einem großen Film, in dem nichts darauf hinweist, dass es sich um das Werk einer Debütantin handelt.“
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Karla (Elise Krieps) will, dass der sexuelle Missbrauch durch ihren Vater endet, ohne darüber zu sprechen | © Achtung Panda Florian Emmerich
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In den 1960er Jahren galt Gewalt gegenüber Frauen und Vergewaltigung in der Ehe als Kavaliersdelikt, und Prügel wurde als probates Erziehungsmittel für Kinder angesehen. Das waren noch Ausläufer der schwarzem Pädagogik aus dem Dritten Reich. Dieses spielt insofern eine Rolle, als die kollektive Traumatisierung noch spürbar ist. Während Karla schweigt, erzählt Frau Steinberg ihrem Chef, dass sie während der NS-Zeit im Konzentrationslager war. Und Lamy erwähnt Karla gegenüber, dass er seine Frau und seinen Sohn im Feuer verloren hat. Lamy ist fast im Pensionsalter, das muss rechnerisch auch während des Krieges geschehen sein. Doch für Karla ist das Sprechen keine Lösung. Sie erzählt Lamy vom Jugendroman Die Chroniken von Narnia, in dem Kinder durch ein Bild eine andere Welt betreten:
„So geht es mir, wenn das passiert.. Ich verschwinde – irgendwie. An einen anderen Ort, wo alles anders ist. Und das Mädchen, dem das passiert ist, bin nicht ich.“
Damit beschreibt sie eine klassische Traumaabspaltung, einen psychischen Schutzmechanismus, bei dem das Bewusstsein sich von überwältigenden, traumatisierenden Ereignissen abkoppelt, um den Schmerz auszublenden.
Die Auslassungen muss der Zuschauer selber füllen, denn die Filmemacher verzichten auf Schockeffekte und spannungssteigernde Filmmusik. Lediglich beim Abspielen von Schallplatten oder Radiomusik sind deutsche Schlager zu hören. Die Spannung entsteht partiell daraus, dass die Realität kammerspielartig in beengenden Räumen stattfindet und die Fantasie der Befreiung auf Mohnwiesen und in sonnendurchflutender Landschaft. Mit der gleichen Sorgfalt und Achtsamkeit, mit der die Dialoge geschrieben und inszeniert wurden, wird auch das Zeitkolorit gezeichnet. Die Erwachsenen rauchen ständig, die Sekretärin hämmert auf einer mechanischen Schreibmaschine herum, die Kostüme entsprechend dem jeweiligen Milieu der Protagonisten und auch die Straßenzüge und Autos entsprechen bis in Einzelheiten der Zeit.
Der Film steht und fällt mit der Schauspielkunst der Protagonisten. Bock und Kogge sind erfahrene „Veteranen“, Torben Liebrecht sorgt als Karlas Vater für Abscheu, und die zierliche Katharina Schüttler spielt die verängstigte Mutter, die das Martyrium ihrer Tochter weitgehend ausgeblendet hat. Eine Sensation ist Elise Krieps in ihrem ersten Kinofilm, sie ist die Tochter der Schauspieler Vicky Krieps und Jonas Laux. Sie wurde während der Dreharbeiten von ihrer Mutter unterstützt.
Die echte „Karla“, die anonym bleibt, konnte nach dem Prozess auf ein Internat gehen und wurde später Ärztin. Die Musik hat sie hobbymäßig betrieben. Sie muss heute um die 75 Jahre alt sein. Mit ihrem mutigen Einsatz hat sie für die damals noch unzureichenden Kinderrechte sensibilisiert.
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Helga Fitzner - 2. Oktober 2025 ID 15491
Weitere Infos siehe auch: https://www.eksystent.com/karla.html
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