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Chinesisches Kino

Die hohe

Kunst des

Evozierens



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Ein mysteriöser Mann bahnt sich entschlossenen Schrittes seinen Weg durch ein Teilstück der Wüste Gobi. Er hat weder Wasser noch Nahrung bei sich, aber offensichtlich ein Ziel: Es ist ein Dorfkino, doch ist die Vorstellung bereits zu Ende und die Filmrollen schon fertig gepackt für den Transport zum nächsten Dorf. Der Mann (Zhang Yi) ist enttäuscht, denn er muss den Film unbedingt sehen. Genau so unbeirrt und hartnäckig ist ein diebisches Streunerkind (Liu Haocun), das eine der Filmrollen stiehlt. Der Fremde wird Zeuge des Diebstahls, verfolgt das Kind, und es beginnt ein Katz- und Mausspiel um die Filmdose. Die Motive der beiden könnten unterschiedlicher nicht sein, denn während das verwahrloste Wesen nur daran interessiert ist, aus den Filmstreifen einen Lampenschirm für den kleinen Bruder zu bauen, ist der Mann am Inhalt der Wochenschau interessiert, die dem Hauptfilm immer vorangestellt wird. Genau um diese Filmrolle rangeln sich die beiden.

Es ist die Zeit der Kulturrevolution in China (1966-1976), die der 1950 geborene Regisseur und Drehbuchautor Zhang Yimou selber miterlebt hat. Sie war schon Thema seiner frühen Filmarbeiten, brachte ihm aber immer wieder Ärger mit der Zensur ein. Zwischenzeitlich verlegte er sich – sehr erfolgreich – auf Martial-Arts-Verfilmungen, wie Hero von 2002 oder House of the Flying Daggers aus dem Jahr 2004, denn die waren politisch unverfänglicher. Der nunmehr erschienene Film Eine Sekunde hat gleich mehrere Zensurgänge hinter sich. Obwohl schon fest im Programm, wurde das für die BERLINALE 2019 angekündigte Werk aus angeblich technischen Gründen zurückgezogen. Nach einer weiteren Odyssee mit Nachdreh und Kürzungen geht es nun an den internationalen Kinostart.

Dabei ist Eine Sekunde vordergründig gar nicht kritisch, denn es ist eine Liebeserklärung an den „Zauber des Zelluloids“, wie es in der Ankündigung heißt. Es ist nicht bekannt, wie die Originalfassung ausgesehen hat; allerdings wäre eine scharfe Politik- und Sozialkritik der menschlichen und empathischen Atmosphäre eher abträglich gewesen. Das undefinierbare Wesen Liu stellt sich als Mädchen heraus und hat auf tragische Weise seine Eltern verloren. Weil sein kleiner Bruder klug ist, braucht es einen Lampenschirm, damit er sich beim Lernen nicht die Augen verdirbt. Der Fremde entpuppt sich als entlaufener Sträfling, der die Wochenschau sehen muss, weil dort für eine Sekunde seine Tochter zu sehen ist. Die Familie hat sich nach seiner Straffälligkeit von ihm abgewandt, und es ist seine einzige Chance, einen Blick auf sein Kind zu erhaschen. Dafür nimmt er alles in Kauf, als ob es kein Morgen und keine Konsequenzen gäbe. Er lebt praktisch nur für diese eine Sekunde.

Nun wird ausgerechnet die Wochenschaufilmrolle aufgrund von Unzulänglichkeiten durch den Wüstenstaub gezogen und ist eigentlich nicht mehr verwendbar. Damit beginnt eine Sternstunde für den ehrgeizigen und zugleich verängstigten Filmvorführer Kino-Onkel (Fan Wei) (im englischen Untertitel Mr. Movie genannt). Das ganze Dorf wird zum Schweigen eingeschworen und beteiligt sich an der groß angelegten Reinigungsaktion der Filmrolle, damit der Kinoabend stattfinden kann und die übergeordneten Behörden das Dorf nicht kollektiv bestrafen, indem die nur alle zwei Monate stattfindenden Filmvorführungen gestrichen werden. Das ist ein Filmfestival der anderen Art, als die DorfbewohnerInnen mit offenen Kochstellen und Kochgeschirr bei der Herstellung destillierten Wassers zur Reinigung des Filmmaterials antreten und die Frauen mit zarter Hand das Zelluloid säubern und mit Fächern sanft trocknen.

Der Sträfling erklärt dem Kino-Onkel seine Beweggründe, der aber Angst vor der Obrigkeit hat, so dass der Fremde ihm massive Gewalt androht. Es ist trotzdem eine Frage der Zeit, wann der Geflüchtete aufgegriffen wird, und es ist noch nicht sicher, ob er nach all seinen Mühen, seine Sekunde Film zu sehen bekommt. Mittlerweile ist aber die Feindschaft zwischen dem Sträfling und dem Waisenmädchen beigelegt und der Empathie gewichen.

*

Man kann mit Filmen so ziemlich alles evozieren, was man will. Zhang Yimou schildert das anhand der Besessenheit der DorfbewohnerInnen, die wie gebannt vor der Leinwand sitzen und sich kritiklos alles vorsetzen lassen, solange sich die Bilder nur bewegen. Auch ein patriotisches Lied wird vom Publikum begeistert und unhinterfragt mitgesungen. Das verbindet miteinander und schwört auf das vorgegebene Narrativ des Maoismus ein, innerhalb dessen Grenzen man sich sicher fühlen kann und in dem man von der Eigenverantwortung und vom Selbstdenken befreit ist. Gegen die Macht der Bilder ist auch heute wohl kaum jemand gefeit, was man daran erkennt, wie schwer ein digitaler Detox von Medien und Smartphone fällt, sofern man ihn überhaupt mal versucht.

Die Kulturrevolution ist eines der schrecklichsten Verbrechen in der erinnerbaren Geschichte, mit deren Auswirkungen China offensichtlich immer noch zu kämpfen hat. Zhang Yimou bedient sich deswegen der Kunst der Auslassung, indem er z.B. keine Bilder von den Lebens- und Arbeitsbedingungen in Maos Straflagern zeigt, die auf jeden Fall der Zensur zum Opfer gefallen wären. Seine Figuren haben aber keine Namen, manche sind nach ihren Berufen benannt, wie der Kino-Onkel, der Wirt oder die Wachmänner. Die Kinder heißen nach ihrem Familienstand Waisenkinder und haben keine Vornamen, und der Sträfling erst recht nicht. Auch die Dörfer bleiben namenlos, die Orte und die Menschen werden nach ihrer jeweiligen Einheit eingeteilt. Deutlicher kann man die Entindividualisierung der Bevölkerung nicht machen, ohne dass die Zensur einen Hebel hätte, an dem sie ansetzen könnte.

Ein weiteres Mittel gegen die Zensur ist das eine zu zeigen und etwas anderes zu meinen. Um die Allmacht des Staates und die Bedrohung durch ihn zu illustrieren, hat Zhang Yimou die Wüste Gobi als bildgewaltige Metapher eingesetzt, in der der Mensch auf Wohl und Wehe den äußeren Bedingungen schutzlos ausgeliefert ist, zumindest wenn er dort alleine und ohne Wasser herumläuft. Ob das heutige junge Publikum solche Doppelbedeutungen erkennt, sei dahingestellt, die ZeugInnen der Kulturrevolution sind dafür sicher empfänglicher und verstehen die Anspielungen auch ohne Bilder von den Gräueltaten und der Unterdrückung. Wenn am Schluss die beiden Ausgegrenzten, der Sträfling und das Waisenmädchen, gefesselt vor der Leinwand sitzen und sich zusammen mit den begeisterten Wachmännern den unsäglichen Propagandaschinken ansehen müssen, dann ist das ganz großes Kino, und dann mag sich der eine oder andere seinen Teil dabei denken.

Eine Sekunde ist ein Plädoyer für die Unverzichtbarkeit von Kultur, für Mitmenschlichkeit gerade unter widrigen Bedingungen und zeigt, was für hervorragende Film- und Kulturschaffende China hervorbringt. Das riesige Reich der Mitte kann auf eine Jahrtausende alte reiche und profunde Kunst und Kultur zurückblicken, und es sind doch gute Nachrichten, dass die in den fraglichen zehn Jahren versuchte Kulturauslöschung nicht so absolut gelungen ist, wie sie beabsichtigt war.



Der Kino-Onkel (Fan Wei) horcht den Fremden (Zhang Yi) und das Waisenkind (Liu Haocun) aus | © MUBI

Helga Fitzner - 18. Juli 2022
ID 13716
Weitere Infos siehe auch: https://mubi.com/de/films/one-second


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