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Hollywood

Der große

Bluff



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Homosexualität als Krankheit anzusehen, ist klerikaler Irrglaube und faschistische Propaganda (oder umgekehrt?), aber auch darüber hinaus ein weltweit noch immer stark verbreitetes Vorurteil. In den meisten Bundesstaaten der USA – selbst in den liberalen Hochburgen an den Küsten – wurden Gesetze, die homosexuelle Handlungen oder Partnerschaften unter Strafe stellten, erst Anfang der 1990er Jahre gestrichen. Der lange Kampf um sexuelle Selbstbestimmung wurde erst 2003 durch Urteile des Obersten Gerichtshofes bestätigt, woraufhin die letzten renitenten Bundesstaaten im Mittelwesten ihre repressiven Gesetze aufheben mussten. Doch Papier ist geduldig, und noch immer spielen konservativ-religiöse Überzeugungen auf lokaler Ebene in den USA eine große Rolle, zu denen es auch gehört, Schwulsein als vermeintliche psychische Störung oder Perversität aufzufassen.

Relativ bekannt ist hierzulande, dass auch viele Sekten wie Scientology Homosexualität verdammen und dagegen Umerziehungskurse anbieten. Mir war allerdings nicht klar, dass sich eine solche Umerziehung bzw. vermeintliche Heilung zu einem florierenden Geschäftszweig windiger Fundamentalchristen entwickelt hat, die in den USA bundesweit Camps unterhalten, in denen Keuschheit gepredigt und eine individuelle Abkehr vom Schwulsein gelehrt wird. Die sog. "Gay Conversion Therapy" (dt.: "Reparativtherapie") wird bis heute in 36 von 52 US-Bundesstaaten angeboten und wurde nach Angaben der Filmschaffenden an Hundertausenden Opfern angewandt.

Man kann sich vorstellen, wie repressiv und kontraproduktiv diese "Therapie" abläuft, die auf eine Gehirnwäsche hinausläuft. Aber wie verhängnisvoll sie für die Betroffenen ist, die gleichsam einen der wichtigsten Anteile ihrer Identität verleugnen und verdrängen müssen, um als geheilt zu gelten, wissen Außenstehende seit der Veröffentlichung von Zeitungsartikeln und dem autobiografischen Buch des Amerikaners Garrard Conley. Der hatte 2004 auf Weisung seiner Eltern eines der Gay-Conversion-Camps besucht, wo er peinigende Situationen durchlebte. Der sehr vielseitige australische Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur und Produzent Joel Edgerton hat diese heiklen Berichte nun mit viel Fingerspitzengefühl verfilmt und wird damit sicherlich eine neue Debatte über den Unsinn der Gay-Conversion-Bewegung anstoßen.

*

Im Film heißt Conley Jared Eamons – großartig gespielt vom schlaksigen Lucas Hedges, der gefühlt derzeit in jedem zweiten US-Independent-Film auftaucht. Er ist der 18jährige Sohn des Autohändlers und Baptistenpredigers Marshall Eamons (Russell Crowe) und der Hausfrau Nancy Eamons (Nicole Kidman), die ein spießiges Eheleben mit traditionellen Geschlechterrollen führen, in dem Gottesfürchtigkeit und Bibeltreue oberste Priorität haben. Wie viele Eltern im ländlich-konservativen Amerika geht bei den Eamons die Angst um, ihr Sohn könnte schwul sein, sobald es dafür auch nur das geringste Anzeichen gibt.

Noch bevor die Umerziehungsgeschichte beginnt, zeigt Regisseur Edgerton schon in der Vorgeschichte, welche destruktive Folgen das religiösbedingte Verleugnen der sexuellen Identität hat: Jared wird auf der Highschool von einem schwulen Mitstudenten bedrängt und beinahe vergewaltigt, weil dieser sich für seine Neigung schämt und nicht gelernt hat, diesen Teil seiner Persönlichkeit zu leben und zu integrieren. Die zunächst freundschaftliche, dann schließlich explosive Begegnung lässt Jared unsicher und verzweifelt zurück. Sein streng an die Hetero-Ehe als einzig wahre und erfüllende Beziehungsform glaubende Vater horcht sich bei christlichen Glaubensbrüdern um und beschließt, seinen Sohn auf eines der Gay Conversion Camps zu schicken.

Dort scheinen die Lehrer und "Therapeuten" zwar am Wohlergehen ihrer Schützlinge ernsthaftes Interesse zu haben. Aber Jared merkt schon bald, dass aus den Schikanen und dem massiven psychischen Druck, dem die Heimbewohner ausgesetzt sind, nichts Positives erwachsen kann. Der Tipp eines Leidensgenossen (gespielt vom schwulen kanadischen Regisseur Xavier Dolan) lautet, einfach mitzumachen und zu schauspielern, damit der Chef-Einpeitscher des Instituts, Victor Sykes (gespielt von Regisseur Edgerton selbst), Ruhe gibt. Sykes lässt Jared mit seinen drakonischen Maßnahmen zwischenzeitlich vergessen, dass er bloß ein Scharlatan ist, der auf Selbst- und Fremdsuggestion und peinliches Bloßstellen setzt.

Doch Jared ist eine zu aufrichtige, sensible, aber vor allem eine zu eigenständige Person, um sich unterwerfen und verbiegen zu lassen. Nach der Konfrontation mit dem Lehren bzw. "Therapeuten" wartet noch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater auf ihn. Joel Edgerton konzentriert sich ganz auf die Entwicklungsgeschichte Jareds, die er eindringlich als eine dramatische Emanzipation innerhalb eines Elternhauses und sozialen Umfelds schildert, in dem Liebe – auch die zu Gott – mit psychischer Manipulation verwechselt wird.

„Love in Action“ nennt sich das Heim, in das Jared geschickt wird, was angesichts des übergriffigen Drills und der gelegentlichen, demütigenden körperlichen Züchtigungen der reine Hohn ist. Die Stärke Edgertons Drehbuchs ist es, die Scharlatanerie nicht sofort als solche bloßzustellen und der Empörung preiszugeben, sondern aus Sicht des Protagonisten mit Distanz und Ungläubigkeit (besser müsste es wohl heißen: Unglaube) anzuschauen. Auch die Positionen der Eltern nimmt das Drehbuch ernst und führt sie nicht als dämliche Hinterwäldler vor. Russell Crowe spielt überzeugend einen gottesfürchtigen Mann, der aus tiefer Überzeugung die Realität nicht anerkennen mag, letztlich aber gegen alle inneren Widerstände genauso umdenken muss wie sein Sohn, der den "störenden" Anteil seiner Persönlichkeit akzeptieren lernen muss, anstatt ihn auszuradieren (der Originaltitel lautet Erased Boy). Der echte Erzieher, der nicht Sykes, sondern John Smid heißt, lebt heute übrigens mit seinem Mann in Texas.



Der verlorene Sohn | (C) UPI Germany

Max-Peter Heyne - 22. Februar 2019
ID 11239
Weitere Infos siehe auch: https://upig.de/micro/der-verlorene-sohn


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