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Tschechisches Kino

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Urin



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Es gibt Wunderheiler. Glaube ich. Meine Mutter ging bei Hautproblemen oder Gürtelrose zu einer verschrobenen, aber liebevollen Alten, die in einer schmalen Wohnung in der Altstadt zu "Besprechungen" empfing. Sie war wohl eine moderne Kräuterhexe, wobei die Sprüche, die sie beim Behandeln vor sich hinmurmelte, mehr Effekt zu haben schienen als die Mittel, die sie empfahl. Ich erinnere mich, dass ich das als Kind unglaublich spannend fand – und Harry Potter war noch nicht einmal erfunden! Auch mir half eine dieser "Besprechungen", aber wie sehr es auf Magie oder nur gutem Zureden beruhte, kann ich rückblickend nicht beurteilen.

In der Tschechoslowakei der 30er bis 70er Jahre gab es einen Wunderheiler namens Jan Mikolásek, der stets betonte, dass er keinerlei medizinische Ausbildung besaß. Stattdessen reichte ihm für eine Diagnose ein prüfender Blick in die Urinprobe der Patienten, um festzustellen, wie ungesund sie lebten oder welche Krankheit sie plagten. Auf seine besondere Gabe kam er, als er seine jüngere Schwester mit gezielter Heilkräuterbehandlung vor der Amputation eines Beines bewahrte. Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland und Drehbuchautor Marek Epstein haben das Leben dieses ungewöhnlichen Mannes, der in Tschechien noch heute von vielen bewundert wird, nachgezeichnet. Dabei schildert sie vor allem, wie Mikolásek (großartig: Ivan Trojan) von den jeweiligen Machthabern kritisch beäugt, aber auch heimlich konsultiert wird.

Die bedrohlichen Mächtigen sind zunächst die deutschen Besatzer – in Person von Hitlers Sekretär Martin Bormann – und danach die kommunistischen Führer, wobei auch der tschechoslowakische Staatspräsident Antonín Zápotocký auf Mikoláseks Dienste zurückgreift. Erst als dieser Ende 1957 stirbt, verliert Wunderheiler Mikolásek die politische Rückendeckung, wird er das Opfer von gezielten Verleumdungskampagnen, die ihn schließlich ins Gefängnis bringen. Denn der kommunistischen Partei, die grimmig entschlossen ist, den historischen Materialismus in der Gesellschaft umzusetzen, werden die Wunderkräfte des Heilers ohne medizinische Ausbildung zunehmend unheimlich. Zumal gerade die Arbeiter und Bauern in Mikoláseks Umgebung auf ihn schwören.

Die Präsidentin der europäischen Filmakademie knüpft thematisch an ihren vorigen Film Mr. Jones (Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins) an, in dem sie schilderte, wie der walisische Journalist Gareth Jones in der Sowjetunion der 30er Jahre die Folgen der Schrecken der Stalinistischen Terrorherrschaft ent- und aufdeckt, letztlich aber an den gegen ihn eingeleiteten Repressionen scheiterte. Während Jones quasi wegen seines Status als Ausländers, der die UdSSR heimlich durchquerte, diffamiert wurde, gibt es bei Mikolásek einen wunden Punkt, der in den 50ern gerade auch in Osteuropa ausgesprochen heikel und strafbar war: seine Homosexualität. Mikoláseks Beziehung zu seinem Assistenten Frantisek Palko (Juraj Loj) findet entsprechend im Verborgen statt.

In Hollands Film, der sich auf historische Dokumente stützt, aber auch fiktionale Elemente einflicht, wird Mikolásek nicht allein diese Beziehung zum Verhängnis, sondern letztlich seine Arroganz, mit der auch seinen Assistenten und Geliebten abzukanzeln pflegt. Der Wunderheiler als strenger Asket, der die Anwendung seiner Heilkräfte ohne Rücksicht auf (mitmenschliche) Verluste vollführt – das ist eine originelle Volte in Hollands Film. Dass die Figur nicht etwa trotz, sondern wegen dieser Ambivalenz wesentlich humaner, nämlich nach Sachlage entscheidet und agiert als die verbohrten Ideologen um ihn herum, ist eine Botschaft, die Agnieszka Holland auch in vielen ihrer anderen Filme vermittelt hat. Immer wieder betont sie die Vielschichtigkeit und Komplexität von Charakteren und gesellschaftspolitischen Sachverhalten, deren größter Feind die sture Suche nach widerspruchsloser Anpassung und Gefolgschaft ist.

Die Skepsis gegenüber der Schulmedizin könnte ein aktueller Bezug zur Pandemie sein – allerdings sind die historischen Umstände dazu zu verschieden. Ob sich manche Impfgegner und Corona-Querdenker dennoch mit dem Wunderheiler identifizieren? Im Sinne der Regisseurin wäre wohl zu sagen: Das mag ein Missverständnis sein, aber auch das muss eine Gesellschaft ertragen, die nicht so enden will wie jene, in denen Jan Mikolásek zu leben gezwungen war.



Charlatan | (C) Marlene Film/Pro-Fun

Max-Peter Heyne - 22. Januar 2022
ID 13414
Wikipedia-Eintrag: Charlatan


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