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Neues deutsches Kino

Gefangene

der Angst



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Eines Tages lässt ein riesiger Kran einen Glascontainer auf den Hinterhof eines Berliner Altbaukomplexes herabschweben, und seitdem verändert sich alles. Dieser ist das neue Büro des undurchsichtigen Hausverwalters Johannes Horn (Felix Kramer), der von seinem Glashaus aus vieles mitbekommt, was in seinem Umfeld vor sich geht, und der das für seine Zwecke nutzt, denn es steht angeblich eine Großsanierung an. Dem Zuschauer wird sehr schnell klar, dass man sich der restlichen Mieter entledigen will, und die Methoden der in Wahrheit geplanten Gentrifizierung sind ziemlich robust. Die Mieter selbst erkennen das eher nicht und lassen sich durch unklare und vage Aussagen beschwichtigen. Dann geschieht das Unfassbare: Die Straße und der Hof werden von einem Einsatzkommando der Polizei gesperrt, die in voller Kampfmontur und mit Maschinengewehren bewaffnet die Einhaltung ihrer Befehle durchsetzt. Es werden keine Gründe genannt, auch keine voraussichtliche Dauer des Einsatzes. Wie sich die Ungewissheit und die Angst auf die eingesperrten Menschen auswirken, erzählt die türkischstämmige Regisseurin und Drehbuchautorin Aslı Özge in ihrem brisanten Thriller Black Box.

Es ist eine psychologische Versuchsanordnung, wie schon der Titel andeutet. In der Psychologie wird - einfach erklärt - mit "Black Box" das unbekannte innere Empfinden und das Gedankengut eines Menschen beschrieben, das sich nicht empirisch messen oder vorhersagen lässt. In dem Film sind alle Mieter mit derselben Ausgangssituation konfrontiert, ihre Reaktionen darauf sind aber sehr unterschiedlich und ändern sich partiell, je länger sie der nicht näher definierten Gefahrensituation ausgesetzt sind. Neben der äußeren Bedrohung zersetzt der Hausverwalter Horn die Gemeinschaft von innen, der den Ausnahmezustand für seine Agenda instrumentalisiert. Politische Entscheidungen haben zunehmende Auswirkungen auf unser Leben bis in den privaten Bereich hinein, Özge enthüllt im Lauf ihrer Geschichte aber primär die wahren Gesichter der einzelnen Menschen, die sich in einer klaustrophobischen Umgebung und einem Krisengeschehen befinden, das sie nicht abschätzen können.

Henrike Koch (Luise Heyer) und ihr Mann Daniel (Sascha Alexander Geršak) erscheinen als ein ganz normales Ehepaar. Nach sechs Jahren Kinderpause will Henrike wieder arbeiten gehen und hat ein wichtiges Vorstellungsgespräch, das sie aufgrund der Abriegelung nicht wahrnehmen kann. Als ihr Mann ihr auch noch eröffnet, dass er sich mit dem Ersparten verspekuliert hat, wird ihre Rückkehr in den Beruf immer dringlicher. Wie alle glauben die beiden, dass sie der Gefahr des Wohnungsverlustes auf dem umkämpften Wohnungsmarkt begegnen könnten, wenn sie die Wohnung kauften. Seltsam ist nur, dass Fragen nach dem Vorverkaufsrecht der Mieter und der Rückkehr in ihre Wohnungen nach der „Sanierung“ von Horn ausweichend beantwortet werden. Henrike ist gut gekleidet, damit sie jederzeit zu ihrem Vorstellungsgespräch aufbrechen kann, weshalb sie sich ständig im Hof aufhält. Zudem wurde bei den Durchsuchungen auf dem Dachgeschoss eine Leiche gefunden, und der aus der ehemaligen sowjetischen Republik Dagestan stammende Ismail Sultanov (Timur Magomedgadzhiev) meint, dass es sich um einen Drogenabhängigen handele, der an einer Überdosis gestorben sei.

Anfangs eine Sympathieträgerin reagiert Henrike auf den Druck mit der Denunzierung von Ismail, der versucht hat, einige Banner für eine Protestaktion gegen die Unterdrückung in Dagestan zu vernichten. Sie will einfach nur, dass die Bedrohung aufhört und ist, wie die meisten, davon überzeugt, dass alles mit rechten Dingen vor sich geht. Nun, die Polizei hält Ismail für einen Afghanen und verhaftet in kurzerhand. - Und die Lage entwickelt sich weiter. Der Lehrer Erik Behr (Christian Berkel) reagiert anders und wehrt sich. Das liegt auch daran, dass das gläserne Büro auf dem Platz steht, wo früher die Mülltonnen waren, die sich jetzt unter Behrs Fenster befinden, der dem üblen Geruch und Ungeziefer ausgesetzt ist. Da Horn untätig bleibt, geht Behr mit einer Unterschriftenliste herum, die auch von einigen unterschrieben wird. Ihm kommen ein paar Vorgänge allmählich seltsam vor, weshalb er Horn ausspioniert und ihm in den Keller folgt. Dort kann es sein, dass Horn einen Stromausfall herbeigeführt hat. Doch die schlimmste Entdeckung ist die frische Zertrümmerung eines tragenden Pfeilers im Gewölbe.

Als Behr die Nachbarn um die Trümmer herum versammelt, reagieren die meisten mit kognitiver Dissonanz, denn sie sind immer noch darauf fixiert, dass sich ihr Wohnraum erhalten lässt. Dabei ist es klar, dass man das Gebäude absichtlich verfallen lässt und nun sogar zusätzlich beschädigt, was auf einen geplanten Abriss schließt. Aus der diffusen Angst heraus wehren sich die meisten aber nicht, sondern solidarisieren sich mit Horn und verteidigen seine Vorgehensweise, selbst als dieser ankündigt, dass eine Videoüberwachung und Stacheldraht an den Dächern installiert werden sollen und das Haus aus Sicherheitsgründen geräumt werden müsse.

Am Ende ist der Aktivist und Demonstrant verhaftet, zwei weitere Ausländer gleich mit ihm. Erik Behr, der verbalen und gedanklichen Widerstand geleistet hat, wird von den Mitmietern zerfleischt, die aus Angst so erfolgreich auf die gewünschte Spur gebracht werden konnten, dass sie blind der Obrigkeit in Gestalt von Johannes Horn Folge leisten: ohne die geringste Zusicherung, ihre Wohnungen in irgendeiner Form behalten zu können. Die Gesellschaft ist gespalten, der große Teil unter die Knute gebracht und die Ordnung wieder hergestellt. Am Ende bleiben die Traumatisierung und der Schock bei den Filmfiguren - und bei den Zuschauern anschauliche Erkenntnisse über die Mechanismen der Entsolidarisierung einer Gemeinschaft. Özges Film wirft den Menschen auf sich selbst zurück und zeigt ein paar typische Auswirkungen existentieller Angst, die oft verhindert, dass man vernunft- und faktenbasiert reagieren kann. Es spielt sich alles in der Black Box ab, also in uns selbst, und nur von da aus kann eventuell gesteuert werden, was als Reaktion auf eine Situation herauskommt.



Henrike Koch (Luise Heyer) und ihre Nachbarn erfahren nicht, worin eigentlich die Bedrohung besteht | © Emre Erkmen/ Port au Prince Pictures

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Aslı Özge wurde 1975 in Istanbul geboren und dort zur Filmemacherin ausgebildet. Sie lebt seit 2000 in Berlin, kennt also beide Kulturen. Da sie in der Türkei sozialisiert wurde und dort auch ihr Handwerk gelernt hat, verwundert es nicht, dass Elemente des historischen kritischen Kunstkinos der Türkei erkennbar bzw. weiterentwickelt worden sind, wie wir sie in unserer Reihe Türkische Filme aus dem Jahr 2001 in einer Auswahl vorgestellt haben.

In diesen gibt es leitmotivisch die Gefängnisthematik, äußerer und innerer Art, die der international gefeierte Kultregisseur Yilmaz Güney (1937-1984) wie keiner vor ihm zu inszenieren verstand. Das kritische Kunstkino der Türkei war in dieser Zeit gesellschaftlich relevant, von der Zensur bedroht, auf Seiten der Unterdrückten, und gefiel sich darin, sich an Güney zu messen. Dieser hatte ein großes Herz für die kleinen Leute und ihre Nöte, die in widrige Lebensumstände geworfen sind ohne Aussicht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Wie die Mietergemeinschaft in Özges Film schaden sie sich durch Unvernunft oder Fehleinschätzung der Lage mitunter selbst. In Black Box wird couragiert die Funktionsweise der Manipulation durch Angst gezeigt, womit sie durchschaubarer wird.
Helga Fitzner - 9. August 2023
ID 14326
https://port-prince.de/projekt/black-box/


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