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Rezension


Filmstart: 10. März 2011

"Almanya – Willkommen in Deutschland" (Deutschland 2011)

Drehbuch: Nesrin und Yasemin Şamdereli / Regie:Yasemin Şamdereli


In Zeiten der Integrationsdebatte erinnert Almanya – Willkommen in Deutschland nicht nur daran, dass Deutschland seinerzeit die Gastarbeiter ins Land holte, sondern es auch die Familien gibt, für die Integration funktioniert hat. Dabei schafft dieser Film den Spagat zwischen Komödie und Tragödie.

Der Türke Hüseyin Yilmaz kommt Ende der 60er Jahre als 1.000.001er Gastarbeiter nach Deutschland, um Geld für seine Familie in der Türkei zu verdienen. 40 Jahre später steht sein Enkel Cenk vor einem großen Problem: In der Schule will ihn bei einem Fußballspiel „Deutsche gegen Türken“ keines der Teams haben. Grund dafür ist, dass er eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater hat. Was ist er denn nun? Türke? Deutscher? Oder doch beides?

Bei einem Familienessen fragt er seine Familie. Doch er erhält keine klare Antwort. Seine ältere Cousine Canan erzählt ihm daraufhin die Geschichte, wie ihr Großvater seinerzeit nach Deutschland kam und später im Rahmen der Familienzusammenführung seine Frau Fatma und die Kinder Veli, Mohamed und Leyla nach Deutschland holt, damit sein ältester Sohn und Schulschwänzer Veli deutsche Disziplin und Ordnung lernt. Niedlich: Weil der kleine Cenk kaum türkisch spricht, wechseln die Türken von der türkischen Sprache ins Deutsche, während die Deutschen unverständliches Kauderwelsch von sich geben. Man begleitet so die Familie Yilmaz auf ihren Weg nach Deutschland. Der Zuschauer erfährt aus der Sicht der damaligen Einwanderer die Vorurteile, die in ihrer Heimat über Deutsche kursierten, wie etwa, dass die Deutschen Schweine und Menschen essen würden; Letzteres immer sonntags in der Kirche, womit das kirchliche Abendmahl für Verwirrung sorgt. Auch die Eingewöhnungsschwierigkeiten in Deutschland werden mit einem Augenzwinkern gezeigt. So wundert sich die Familie Yilmaz über „Riesenratten am Seil“ (Dackel an der Hundeleine), über die merkwürdigen Sitze in deutschen Toiletten und das Jesuskreuz, welches den zweitältesten Sohn Mohamed einen großen Schrecken einjagt. Man fühlt mit der Mutter Fatma, als sie versucht mit Gestik und „Muh“-Lauten dem deutschen Verkäufer verständlich zumachen, dass sie Brot und Milch kaufen möchte. Ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, werden die drei Kinder in einer deutschen Schule angemeldet. Später müssen die Kinder für ihre Mutter übersetzten, etwa, als die Ärztin ihr sagt, dass sie ein weiteres Kind erwartet.

Als die Familie Yilmaz nach der Geburt von Ali das erste Mal wieder in die Türkei reist (drei Tage im Auto hin, drei Tage zurück), muss sie jedoch feststellen, dass ihr die Heimat fremd geworden ist. Zu sehr hat sich die Familie verändert, zu sehr werden sie von den früheren Freunden mit anderen Augen betrachtet. So ist ihnen das Loch im Boden, das seinerzeit in der Türkei als Abort diente, unverständlich geworden, da sie sich an die deutschen Toilettensitze gewöhnt haben. Und als Mohammed seinen besten Freund die versprochene Coca-Cola-Flasche mitbringt, darf er sich Geiz vorwerfen lassen. Der Freund hätte von den „reichen Deutschen“ lieber ein ferngesteuertes Auto bekommen, oder wenigstens eine ganze Kiste Coke. Mohammed versteht die Welt nicht mehr. Dieser Urlaub bringt Hüseyin dazu, nicht in der Türkei, sondern in Deutschland ein Mehrparteienhaus für sich und seine Familie zu kaufen.

Die Rückblenden werden immer wieder unterbrochen und die eigentliche Rahmenhandlung geht bei Cenk und seiner Cousine Canan weiter. Während sich ihre Oma Fatma über den gerade erhaltenen deutschen Pass freut, träumt Hüseyin, dass er sich durch die deutsche Staatsbürgerschaft zur deutschen Leitkultur verpflichtet hat (d. h. u. a. jeden Sonntag den „Tatort“ sehen, alle zwei Jahre Urlaub auf Mallorca machen und einem Schützenverein beitreten). Als er dann noch eine Einladung von der Bundeskanzlerin mit der Bitte erhält, als 1.000.001 Gastarbeiter eine Rede zu halten, will er davon nichts wissen. Seine Angst, seine türkische Identität zu verlieren, bringt ihn dazu, ein renovierungsbedürftiges Haus in der Türkei zukaufen. Beim Familienessen verkündet er, dass die gesamte Familie in den Ferien dorthin fahren wird, um es gemeinsam zu renovieren. Seine Kinder und Enkel steht jedoch nicht der Sinn danach, da sie eigene Probleme haben. Mohamed findet schon lange keine Arbeit, Velis Frau will die Scheidung und Enkelin Canan ist schwanger von ihrem britischen Freund, von dem ihre Familie nichts weiß. Doch jeglicher Widerstandsversuch der Familie ist zwecklos. Das Familienoberhaupt setzt sich durch und die Familie macht sich auf dem Weg zum Ferienhaus in Anatolien. Herrlich: Der in Deutschland geborene Sohn Ali hat mehr Probleme und Vorurteile gegenüber der Türkei als seine deutsche Frau.

Gelandet in der Türkei, mietet sich die Familie einen Kleinbus, um nach Anatolien zu kommen. Während der Fahrt passiert die Tragödie: Hüseyin stirbt. Die fröhliche Grundstimmung des Films kippt um. Schmerz und Trauer der Familienangehörigen prägen von nun an den Film. Der Wandel von der Komödie zur Tragödie ist vollzogen. Plötzlich sieht sich die Familie Yilmaz vor einem neuen Problem: Rechtlich ist Hüseyin als Fremder, als Nicht-Türke gestorben und darf nach türkischem Recht auf keinem regulären Friedhof bestattet werden. Die Familie soll den Sarg zum abgelegenen Ausländerfriedhof bringen. Der Staatsangestellte könne nur etwas drehen, wenn die Familie ihn mit 10.000 Euro besticht. Schockiert über diese Vorgehensweise und Summe, macht sich die Familie widerstrebend auf dem Weg zum Ausländerfriedhof. Auf dem Weg dorthin beschließen alle, ihren Vater in sein Heimatdorf zu bringen und ihn widerrechtlich dort zu beerdigen. Als sie nach der Beerdigung an dem Haus ankommen, finden sie eine Ruine vor. Ihnen wird klar, dass dieses Haus für den Vater ein Vorwand war, um seine letzte Reise in die Heimat mit der ganzen Familie antreten zu können. Der in Deutschland arbeitslose Mohamed bleibt in der Türkei, um das Haus wieder aufzubauen. Der Rest der Familie kehrt zurück. Bewegend: Der Enkel Cenk hält beim Empfang der Bundeskanzlerin vor der Presse die Rede, die sein Großvater Hüseyin mit ihm geübt hatte. Bei einem Picknick kommen alle wieder zusammen: die älteren Versionen mit ihren jüngeren Ichs, zauberhaft und doch selbstverständlich vereint reden und lachen sie miteinander. So endet der Film mit dem Zitat von Max Frisch: Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.






Premiere feierte Almanya – Willkommen in Deutschland auf der Berlinale außer Konkurrenz. Im Publikum saß auch Bundespräsident Wulff. Die Zuschauer lachen an den richtigen Stellen. Der Film hat seinen eigenen Charme, selbst bei den Szenen, bei denen die Gags ins Alberne abzutauchen drohen. Nach Hüseyins Tod und dem Wechsel zur Tragödie spürt man die Trauer der Protagonisten mit. Man teilt mit der Familie das Unverständnis und Empörung darüber, dass der Vater nicht auf einen türkischen Friedhof begraben werden darf, weil er die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatte. Die Beerdigungsszene ist herzzerreißend in Szene gesetzt. So stehen neben Fatma und ihren erwachsenen Kindern ihre jüngeren Selbst und weinen mit ihnen um den Vater. Da blieben nur wenige Augen trocken.

Immer wieder werden Originalfilmaufnahmen der 60er und 70er Jahren, in denen die türkischen Gastarbeiter gezeigt werden, in den Film mit eingebunden. Ein hervorragend gewähltes stilistisches Mittel der Regisseurin Yasemin Şamdereli, um neben der Situationskomik dezent darauf hinzuweisen, dass die Gastarbeiter solche Situationen wirklich erlebt haben, auch wenn die Personen und Situationen in Almanya – Willkommen in Deutschland natürlich überzeichnet sind.

Die Besetzung ist sehr gut gewählt. Die jüngeren Versionen der Familienmitglieder sind sehr gut ausgesucht. Man erkennt sofort, um wen es sich handelt. Bezaubernd spielt Demet Gül die jüngere Mutter Fatma, minimalistisch und doch sehr komisch. Auch Rafael Koussouris, der den kleinen Jungen Cenk spielt, erobert die Zuschauer mit seiner Art im Sturm.

Man darf den Şamdereli-Schwestern zu dem humorvollen und gefühlvollen Drehbuch und Yasemin Şamdereli für die hervorragende Regiearbeit beglückwünschen. Nesrin & Yasemin Şamdereli haben in dieser Geschichte sowohl eigene als auch Erfahrungen in ihrem Bekanntenkreis liebevoll in eine Tragikomödie gewoben, die die Frage der Heimat und Identität von türkischen Gastarbeitern in Deutschland und ihre Nachkommen thematisiert, ohne jedoch eine Lösung zu präsentieren. Die Frage Cenks, was er nun ist, bleibt unbeantwortet.

Schade ist nur, dass die Yilmaz-Familie kein Thema der aktuellen Integrationsdebatte aufgreift. Nach den 40 Jahren in Deutschland sprechen alle deutsch wie türkisch (mit Ausnahme von Cenk, der kaum türkisch spricht), die Schwangerschaft der unverheirateten Canan ist nach dem ersten Schock auch schnell überwunden und die deutsche Frau von Ali ist vollständig in der Familie akzeptiert. Die Integration ist mit dem Erwerb des deutschen Passes von Fatma und Hüseyin vollständig abgeschlossen. Keine Ehrenmorde, keine extremen Religionsansichten, keine Parallelgesellschaft. Potential, dies mit aufzugreifen, wäre vorhanden gewesen. Aber vielleicht wollten die Şamdereli-Schwestern die Öffentlichkeit daran erinnern, dass es auch Familien ehemaliger Gastarbeiter gibt, die Integration leben. Daher wurden die anfänglichen Probleme und Missverständnisse thematisiert. Der Zuschauer fühlt mit den Protagonisten und es entsteht ein größeres Verständnis für die Gastarbeiter und ihre Familien sowie ihre in Deutschland geborenen Nachkommen, die in der Türkei als Deutsche gesehen werden, in Deutschland jedoch oft als Türken. Vielleicht sorgt der Film für mehr Verständnis zwischen der deutschen und der türkischen Kultur. Zu wünschen wäre es. Abschließend bleibt zu sagen, dass Almanya – Willkommen in Deutschland eine sehr gute und gefühlvolle Tragikkomödie ist, wie sie selten in Deutschland produziert wird.


Sara Hoeft - red. 12. März 2011
ID 00000005097

Weitere Infos siehe auch: http://www.almanya-film.de


Post an die Rezensentin: sara.hoeft@kultura-extra.de



 

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