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Essay


Dolce vita reloaded? Nein, Kunst als Gegengift bei Vergiftung durch Langeweile


La grande bellezza gilt vielen als Paolo Sorrentinos Antwort auf den Fellini-Klassiker La dolce vita aus den 60-ern. Die Dekadenz der Schönen und Reichen, deren Sandkiste die Via Veneto war, ist in der soeben erschienenen Neuauflage in die Jetztzeit verfrachtet und um ein Vielfaches potenziert worden. Die Überdrehtheit der Ära 2.0, der Verfall von großen Teilen der italienischen Gesellschaft und die Dekadenz der ewigen Stadt (die Beschwörung ihres Verfalls seit gehört mittlerweile zu Rom wie der Petersdom) lassen Anita Ekbergs nächtliches Bad im Trevibrunnen in seiner Harmlosigkeit geradezu rührend erscheinen. Zwischen beiden Filmen liegen nicht nur fünfzig Jahre, die Geburt der digitalen Medien und der langsame, aber sichere Tod des klassischen Unterhaltungsmediums Fernsehen, sondern auch 17 Jahre berlusconianischer Regentschaft. Marotten, die in den 60ern noch als Antwort der Nachkriegsgeneration auf die Schrecken des Faschismus und die Entbehrungen des Krieges durchgehen konnten, haben in Sorrentinos Film den Ausgeburten der Spaßgesellschaft Platz gemacht, deren größte Existenzangst die Langeweile ist, gegen die mit rauschenden, Gatsby-artigen Festen auf einer Dachterrasse mit Blick aufs Kapitol, mit Drogen- und Sexexzessen angekämpft wird.



Paolo Sorrentino bei den Dreharbeiten zu La grande bellezza - Foto (C) DCM Filmverleih



Sicherlich ist es nicht falsch, La grande bellezza vor allem als Bestandaufnahme der moralischen Beschaffenheit des vermeintlichen Bel Paese zu werten. Allerdings bietet Sorrentino dem Publikum noch eine weitere Bedeutungsebene an, die sich eher auf einem Metaniveau bewegt, da sie die Kunst selbst und deren Erzeugung in den Mittelpunkt rückt. Man mag den Titel des Films als ironische Vorankündigung des gesellschaftskritischen Inhalts auffassen. Genauso gut kann man ihn jedoch als metafiktionale Thematisierung der Erschaffung von Schöngeistigem verstehen. Protagonist und Ich-Erzähler zugleich ist der Schriftsteller und Journalist Jep Gambardella, der seinen 65. Geburtstag zum Anlass nimmt, sein Leben Revue passieren zu lassen. Seine Freunde haben sich allesamt der Kunst verschrieben – unter ihnen befinden sich Schauspieler, Drehbuchautoren, Showgirls und Intellektuelle aus der römischen Oberschicht.

Vorangestellt ist der ersten Szene ein Zitat aus Célines Roman Reise ans Ende Nacht: „Reisen ist ein Gewinn, lass die Fantasie arbeiten. Der Rest ist Enttäuschung und Mühe.“ Eine Hommage an die Kunst, die den Soundtrack zum Schwarz-Weiß-Film der praktischen Aspekte des Lebens liefert, wie es auf den ersten Blick scheint. Postfiktionale Kunsterzeugnisse begnügen sich allerdings nicht mehr damit, der Unterhaltung zu dienen. Stattdessen ironisieren sie die Erwartungshaltung des Publikums, ein Gegenprogramm zum Alltag geboten zu bekommen, indem sie auf sich selbst verweisen und dem Zuschauer oder Leser damit die Illusion, der er sich bereitwillig hingibt, vor Augen halten. Dieser Bruch im Erzählpakt wird gleich zu Beginn des Films deutlich, als die Kamera einmal kurz auf den Kopf gestellt wird (was so manchem Zuschauer als Innenperspektive Gambardellas oder als Visionalisierung des Verfalls alles Sittsamen erscheinen mag).

Metafiktionale Motive ziehen sich allerdings durch den gesamten Film hindurch. Der Spiegel ist per se die Verkörperung alles Metafiktionalen, indem er Abbilder der vermeintlichen Realität erzeugt. Auf Gambardellas Geburtstagsparty wiegt eine Stripperin in lasziven Bewegungen ihre Hüften vor einer Glasscheibe. Dass sie damit ein Publikum (Männer, die sich hinter der Glasscheibe befinden) unterhält, wird erst auf den zweiten Blick klar – zunächst einmal scheint sie für ihr Spiegelbild zu tanzen. Nichts Anderes als Wirkliches abzuspiegeln macht die Fotografie. Noch bevor das Kameraauge auf Gambardellas Dachterrasse schwenkt, erhascht der Zuschauer einen Blick auf die ewige Stadt durch die Linse einer Hightech-Kamera, die ein japanischer Tourist auf dem Gianicolo in der Hand hält. Die Klischeehaftigkeit der Szene (untermalt durch die überirdisch anmutenden Frauenstimmen eines Kirchenchors) wird gebrochen durch den Ohnmachtsanfall des Touristen, der die harmonische Einstellung (den panoramaartigen Blick auf die Stadt aus der Vogelperspektive) abrupt enden lässt. Daran knüpft die Schlussszene des Films an, in der eine Gruppe von Nonnen zu sehen ist, die aus einem Reisebus steigt, um sich auf einer Tiberbrücke fotografieren zu lassen (die implizierte Unterlaufung des symbolischen Bilderverbots durch Angehörige des Klerus ist nur einer von vielen Seitenhieben auf die Kirche, deren Würdenträger Sorrentino als korrupt, gierig und heuchlerisch
porträtiert).



La grande bellezza - Foto (C) DCM Filmverleih



Der Drang nach Selbstdarstellung und Greifbarmachung eines jeden Augenblicks in einer hoffnungslos überdrehten Welt wird in einer anderen Szene noch einmal mehr ad absurdum geführt: Journalist Gambardella hat den Auftrag, einen Fotografen zu interviewen. Berühmtheit hat dieser erlangt, indem er die Gemäuer einer antiken römischen Villa Stein für Stein mit Fotografien tapeziert hat; Gegenstand jedes einzelnen Bildes ist er selbst. Von Kindesbeinen an habe er Gefallen daran gefunden, sich täglich, immer mit der gleichen Kameraeinstellung und Mimik, zu fotografieren. Ähnlich grotesk mutet das Gebärden eines jungen Paares an, das sich, zu Gast auf Gambardellas Dachterrasse, ständig selbst fotografiert, während es sich küsst. Scheinbar um sich seiner selbst zu vergewissern, ist quasi ein drittes Augenpaar notwendig. Der Blick von außen wird noch einmal zusätzlich verstärkt durch Gambardellas Anwesenheit, ohne die das Paar nur die halbe Ekstase bei Vollzug des Liebesaktes zu verspüren scheint.

Sorrentino scheint Spaß daran zu haben, Kunstschaffende (aber vor allem auch ihr dankbares Opfer, das Publikum, und damit, quasi extrafiktional, auch den Filmzuschauer) vorzuführen, wenn er eine Performance-Künstlerin in einem römischen Park splitterfasernackt (einziges Accessoire die auffällige Rasur ihrer Schambehaarung) mit derartiger Wucht gegen eine Mauer rennen lässt, bis ihr das (Kunst)Blut aus dem Schädel tropft und das (verstörte) Publikum begeistert applaudiert. „Kunst“ als willkürliche Ausgeburt der aus Langeweile oder wirtschaftlicher Notwendigkeit gewucherten Hirngespinsten missgelaunter „Kunstschaffender“ (als Gegenprogramm zum Geniekult). Für dieses Motiv gäbe es keine trefflichere Darstellung als die einer pubertierenden Göre, die von ihren überambitionierten, aufstrebenden Eltern dazu gezwungen wird, in (nicht gespielter) Rage eine weiße Leinwand vollkommen wahllos abwechselnd mit Farbeimern und dem eigenen Hinterkopf zu traktieren, bis nach dreißig Minuten ein völlig zerstörtes und erschöpftes Kind und die wilde Kleckserei eines Dreijährigen (im Wert einer mindestens vierstelligen Summe) das Ergebnis sind. Eine Stripperin, die Begleitung Gambardellas an diesem Abend, ist die einzige, die die seelischen Nöte des von seinen Eltern als vermeintliches Genie missbrauchte Kind zu erkennen scheint.

Überhaupt erweisen die Außenseiter in Sorrentinos Film sich als die hellsichtigsten (ähnlich wie die Blinden in Baudelaires Les Fleurs du Mal): Ein geistig Umnachteter, eine zwergwüchsige Chefredakteurin, ein liebeskranker Tollpatsch, ein seine wahren Neigungen leugnender homosexueller Ehemann und die besagte an Depressionen leidende Stripperin scheinen als Einzige dem Narrenkäfig (das Motiv des Lebens als Zirkusmanege wird unterstrichen durch die Giraffe, die nach surrealistischer Manier in den Caracalla-Thermen vor Gambardella auftaucht) halbwegs zu entkommen, indem sie sich mit der Farcehaftigkeit des Lebens abgefunden zu haben scheinen (im Film fällt der Begriff der pirandellianischen Masken). Ihre Klarsicht bezahlen sie jedoch per definitionem fast alle mit dem Leben. Tod (spirituell und physisch) ist in La grande bellezza allgegenwärtig; er unterstreicht die Konnotation von Schönheit als Morbidität und Vergänglichkeit.



Toni Servillo in La grande bellezza - Foto (C) DCM Filmverleih



Das Scheitern der Kunst drückt sich in der Gestalt des Protagonisten par excellence aus. Er definiert sich als Schriftsteller, hat aber das Schreiben vor 40 Jahren, nach der Veröffentlichung seines ersten und einzigen Romans, bereits aufgegeben (der Film bleibt eine Antwort schuldig auf die Herkunft von Gambardellas Vermögen, der aus kleinen Verhältnissen zu stammen scheint). Sein bester Freund, ein verkappter Drehbuchautor und Schauspieler, kehrt Rom und allem der Großstadt innenwohnenden Bösen den Rücken nach der Premiere seines neuen Stücks, auf die er jahrelang hingearbeitet hat, um in sein Heimatdorf zurückzukehren, nachdem ihn Rom bitter enttäuscht habe. Auch Gambardella verlässt die ewige Stadt, als er seinen spirituellen Tiefpunkt erreicht hat, und bricht (wie schon Goethe) nach Sizilien auf, um Heilung zu suchen. Was er findet, sind vor allem Kindheitserinnerungen: Er durchlebt noch einmal seine erste Liebe, eine Szene, die jedoch sehr schnell die misogyne Interpretation der Frau als Übel alles Bösen offenlegt. Auch diese Geschichte in der Geschichte ist also eine Spiegelung, wobei es sich hierbei um eine Variante des Sündenfalls handelt).

Rom, in seiner Morbidität Inbegriff alles Schönen und damit Vergänglichen), dient allen Protagonisten aus Sorrentinos Film (von denen keiner Römer ist) als Projektionsfläche für ihre Träume. Die komplette symbolische Überfrachtung der Stadt, das Gewicht der auf ihren sieben Hügeln ruhenden Klischees legt Sorrentino offen, indem er den (oftmals in der Kunst beschworenen) Mythos Rom ebenfalls ironisiert (selbstverständlich fehlt nicht der legendäre Blick durchs Schlüsselloch auf den Vatikan vom Aventin aus). Die Wildgänse, die der Legende zufolge die Zerstörung der Stadt 387 v.Chr. durch die Gallier verhindern konnten, finden sich plötzlich auf Gambardellas Terrasse wieder. Und der Kapitolshügel (Schauplatz der Legende), durch zahlreiche Tempelanlagen Sitz des sakralen Roms, hat in Sorrentinos Film alles Heilige verloren, wenn Prostituierte dort allabendlich auf Kundschaft warten.

Sorrentino begnügt sich jedoch nicht mit einer eindimensionalen Darstellung von Kunst als einem unauthentischen (schon Platon wertete Fiktion als Lüge ab), lächerlichen Versuch, die Wirklichkeit abzubilden. Dem erwähnten, dem Film vorangestellten Céline-Zitat entsprechend huldigt er zugleich der Kunst, indem er sie als erhabene Antwort auf die von Leere, kurzen Halbwertszeiten, Heuchelei und Habgier geprägte Lebenswelt der 2.0-Ära präsentiert. Die überirdisch anmutende (einmal nicht ironisierte) Schönheit antiker Skulpturen und Gemälde (wie sie Gambardella und die Stripperin in einem antiken Palast begegnen, zu dem der homosexuelle Ehemann die Schlüssel besitzt) kontrastieren die Überdrehtheit der vorigen Szene, die die kindliche Performance-Künstlerin zeigte. Das Kamerauge ruht lange auf Gambardella, der in anmutiger Betrachtung vor einem Gemälde mit einem Monalisa-artigen Frauengesicht stehen bleibt. Musikalische Untermalung, hektische Bilderabfolge und ironische Kommentare setzen einen Augenblick lang aus – die Erhabenheit des Schönen scheint den Kampf gegen die eigene innere Zerrissenheit gewonnen zu haben. Wenngleich das Gemälde, nicht anders als eine Fotografie, letztendlich nichts anderes als ein Abbild ist. Letztendlich leistet das Illusionäre der Schönheit jedoch nicht zwangsläufig einen Abbruch.


Lea Wagner - 9. August 2013
ID 7036
[Die Autorin ist Literaturwissenschaftlerin und freie Journalistin (u.a. für SZ-Magazin). Tagsüber vertritt sie deutsche Interessen in der EU-Politik. Italien kennt sie sehr gut, da sie länger dort gelebt hat.]

Weitere Infos siehe auch: http://www.lagrandebellezza.de/


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