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Dokumentarfilm

Perfide, kontrovers, provokant, absurd - so gewagt wie in The Act Of Killing hat (seit Shoah) kein Dokumentarfilm mehr die Vergangenheit einer Diktatur aufgearbeitet





Mord als Handwerk

In seiner viel beachteten Hitler-Biografie stellt der Historiker Joachim Fest (1926–2006) die gewagte These auf, dass Adolf Hitler, wäre er noch vor den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1938 verstorben, trotz der Unterdrückungsmaßnahmen wahrscheinlich als großer deutscher Staatsmann in die Geschichte eingegangen wäre und eben nicht als der blutrünstigste Diktator aller Zeiten: „Die aggressiven Reden und ‚Mein Kampf‘, der Antisemitismus und das Weltherrschaftskonzept wären vermutlich als Phantasiewerk früher Jahre in Vergessenheit geraten.“ (Fest 1973). Was für die umstrittene (unter anderem von Fests großartigem Kollegen Sebastian Haffner verworfene) These spricht, ist die ernüchternde Tatsache, dass viele Diktatoren, Kriegstreiber und -verbrecher vor, aber eben leider auch nach Hitler ungestraft gegen das eigene oder fremde Völker wüten und ebenfalls Millionen Opfer aufhäufen konnten, ohne dafür jemals zur Verantwortung gezogen worden zu sein, da es noch keinen internationalen Strafgerichtshof gab.

Diese historisch skandalöse Erfahrung hat auch den amerikanischen Dokumentaristen Joshua Oppenheimer beschäftigt. Doch erst auf Umwegen kam er dazu, das Thema der Verdrängung, Verklärung und Glorifizierung einer Gewaltherrschaft in einem Film zu gießen, der inhaltlich wie formal die Grenzen der bisher entwickelten Dokumentarfilmarbeit sprengt und deshalb ohne Zweifel zu den bedeutendsten Werken dieses Genres zählt – auch wenn man als Zuschauer, Filmemacher und Ästhet einige Einwände gegen ihn haben kann. Oppenheimer hatte während der Arbeit an einem Beitrag über ausgebeutete indonesische Plantagenarbeiter auch über ein anderes Thema recherchiert, nämlich über die Gräueltaten von Kriminellen, die das indonesische Militär 1965/66 angeheuert hatte, um Oppositionelle des Regimes von Putschgeneral Haji M. Suharto zu foltern und zu töten. Zunächst interviewte Oppenheimer Überlebende und Angehörige von Opfern, was aber durch die Einmischung der Militärregierung immer schwieriger wurde. Oppenheimer berichtete bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck (der Film wurde von einer dänischen Produzentin ermöglicht), dass ihn die Interviewten, die über das Schicksal ihrer Verwandten Aufschluss erhalten wollten, ihn darum baten, direkt mit den Tätern zu sprechen.




© WOLF Consultants

© WOLF Consultants

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Aus den Begegnungen mit einem früheren Folterer, der im Sold der Armee stand, erfährt Oppenheimer Details über die „Saison der Hackmesser“ in den Jahren 1965/66, denen Schätzungen zufolge 500.000 bis zu drei Millionen Kommunisten, linksgerichtete Oppositionelle, chinesische Einwanderer und Studenten zum Opfer fielen. Der Regisseur begriff damals rasch, dass er dem Unrecht, das bis heute juristisch nicht geahndet, sondern vom Militär, aber auch vielen Bürgern gutgeheißen wird, nicht auf die übliche Weise beikommen würde, also indem er die Verbrechen als solche benennen und moralisch verurteilen würde. Stattdessen hat sich Oppenheimer auf eine waghalsige Verständigung und Absprache mit den Mördern eingelassen, denen er nicht nur Raum für ihre Schilderungen einräumt, sondern auch für die Selbstdarstellung als vermeintliche Helden des antikommunistischen Kampfes – alles in der Hoffnung, auf diese Weise der Wahrheit näher zu kommen.

Das Konzept des Regisseurs ist eine mutige, spektakuläre Gratwanderung: Er lässt einige Mörder von einst, die inzwischen ein gemächliches Rentnerdasein führen, ihre damaligen Folter- und Tötungsmethoden an authentischen Orten vorführen oder gar in eigens aufgebauten Kulissen nachinszenieren. Da die Männer auf ihren gesetzlosen Status schon immer stolz waren und auch heute wenig Grund zur Reue sehen, ergeben sich bizarre, für den Zuschauer bisweilen über die Grenze des Erträglichen gehende Situationen: Die Killer plauderten vor der Kamera aus dem Nähkästchen, illustrieren ihr mörderisches Handwerk von einst, z.B. wie man möglichst effizient und in großer Zahl Menschen mit Draht zu Tode stranguliert. Der Zuschauer wird Zeuge einer zugegebenermaßen schauerlichen Perversität: Massenmörder, die sich keiner Schuld bewusst sind, lassen sich im Filmstudio zombieartige Wunden in ihre gealterten Gesichtern schminken, führen sich auf wie Desperados aus drittklassigen Gangsterfilmen und treten inmitten kitschig-surrealer Bollywood-Musical-Kulissen in Frauenkleidern als Dragqueens auf. Quasi nebenbei brüsten sie sich damit, wie sie die Gegner von einst gefesselt und mit Werkzeugen und Macheten gefoltert haben, das Blut weggeschrubbt und die Leichen zerteilten. Mehrfach gerät die Darstellung oberhalb der Scham- und Schmerzgrenze, macht die bewusst zur Schau gestellte Inhumanität sprachlos.

Sind diese Mittel angesichts des Zwecks, zur Demaskierung sadistischer Verbrechen (die Verbrecher selbst haben nach wie vor wenig zu befürchten) beizutragen, gerechtfertigt? Auch ich meine: Ja. Vor allem ist zu bedenken, dass die Untaten des Suharto-Regimes (das zu Deutschland übrigens hervorragende, auf persönliche Freundschaft zwischen Helmut Kohl und Suharto beruhende diplomatische Verbindungen unterhielt) hier erstmals öffentlich gemacht werden, ohne die eine wie auch immer geartete Aufarbeitung schlicht nicht möglich wäre. Diesem Ziel ist Oppenheimer nach eigenen Angaben durch mehrere Aufführungen in Indonesien ein gutes Stück näher gekommen: Wenn auch die heutige Militärregierung über die Verbrechen weiterhin schweigt, ist innerhalb der indonesischen Bevölkerung immerhin eine Diskussion in Gang gekommen – so bestätigte jedenfalls Oppenheimer bei seinem Besuch auf dem Lübecker Filmfest. Sicher hat der Regisseur dadurch, dass die Mörder einer Diktatur sich so inszenieren lässt, wie sie sich selbst sehen, mehr erreicht, als wenn er investigative Interviews wie einst Claude Lanzmann für sein Mammutwerk über den Holocaust an den europäischen Juden, Shoah, geführt hätte.

Auch einen der Protagonisten, der wie seine früheren "Kollegen" unbehelligt und hochgeachtet inmitten der von starken ökonomischen Unterschieden geprägten indonesischen Gesellschaft lebt, bringt das Filmprojekt ansatzweise zum Nachdenken. Insgesamt aber ist The Act Of Killing die ernüchternde Bestandsaufnahme einer von militärisch-aggressivem Gedankengut infizierten Nation, deren Machthaber sich skrupelloser Mittel bedient haben, deren Folgen bis heute zur sozialen Spaltung der Gesellschaft beitragen. Im Übrigen stürzt mich der Film in ein Dilemma: Normalerweise würde ich einen solchen mutig konzeptionierten und mit viel Mühe über viele Jahre hinweg erarbeiteten Film umstandslos auch zur Anschaffung als DVD empfehlen. Aber will man sich diese ungeheuerlichen Interviews mehr als einmal antun?


Bewertung:    


Max-Peter Heyne - 18. November 2013
ID 7377
Weitere Infos siehe auch: http://theactofkilling.com/


Post an Max-Peter Heyne



 

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