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Es ist die letzte noch aktive Show ihrer Art: das Seaside Special in Cromer an der Ostküste Englands. Unter dem Theater brandet die Nordsee, über ihm kreischen die Möwen und das Theater am Ende des 1902 eröffneten Piers erfreut sich großer Beliebtheit. Jeden Sommer von Juni bis September wird hier neun Mal in der Woche eine Varieté-Show zur Darbietung gebracht, die zwar nicht mit großen Stars aufwarten kann und auch kein Welttheater bietet, aber durchaus die Kunst des Entertainments beherrscht. Der deutsche Regisseur Jens Meurer hat sich vor Jahren auf den ersten Blick in Cromer und das Pier verliebt und lässt uns in seiner Dokumentation an den Vorbereitungen zum alljährlichen Höhepunkt, dem Verlauf und dem Ende der Show teilhaben. In Seaside Special – Ein Liebesbrief an Großbritannien geht es aber nur vordergründig um das Theater, es ist eine Hommage an die Briten, ihre Zerrissenheit in Zeiten des Wandels, ihre Resilienz und ihren Humor. Der kleine Küstenort ist laut Meurer ein "Mikrokosmos des modernen Großbritanniens", und er geht dort den gesellschaftlichen Auswirkungen des jahrelangen Entscheidungskriegs in Sachen Brexit auf den Grund. (Der begann 2016 und wurde erst 2020 nach Ende der Dreharbeiten zugunsten des Ausstiegs beschlossen.)

Gedreht wurde 2019 auf 16-mm-Film, der insbesondere bei den Außenaufnahmen die Lichtverhältnisse gut wiedergibt. Neben Einblicken in die Show zieht Meurer durch den Ort und interviewt die Bewohner bezüglich des Brexits. Die Briten waren wohl schon immer sehr eigen, aber als Europäer fühlen sich die meisten doch, nur hängt das nicht notwendigerweise von der Mitgliedschaft in der EU ab. Ein Ehepaar mit Terrier ist froh, dass sie beide der selben Meinung sind, andere Familien sind in Befürworter und Gegner gespalten, ein Prozess, der sich über Jahre hingezogen hat und zermürbend ist. Am Ende ihrer Geduld und Kraft fiebern die Briten der endgültigen Entscheidung zum Brexit oder Verbleib in der EU genauso entgegen wie die Künstler ihrer Show. Jens Meurer ist sehr anglophil und hat in Oxford studiert, wo er mit Boris Johnson gemeinsame Tutorials besuchte, der zur Zeit der Dreharbeiten britischer Premierminister wurde. Und auch familiär ist Meurer mit Großbritannien verbandelt. Er kennt sich mit den britischen Befindlichkeiten also aus.


„Die Menschen von Cromer sind das Herzstück von Seaside Special, und ich konnte ihnen nahe sein, indem ich über zwei Jahre hinweg eine Beziehung zu ihnen aufbaute, beim Recherchieren und Filmen. Eine starke Frau steht im Mittelpunkt, die taffe Regisseurin Di Cooke, und um sie herum eine charismatische Besetzung von Briten, die zwangsläufig alle Positionen im Brexit-Sturm abdecken - von Einheimischen wie der Kostümbildnerin Laura Whyte bis zum Tory-Ratsmitglied John Lee, einem Krabbenfischer in achter Generation, der sich Sorgen um die britische Identität macht.“


Die Ansichten zum Brexit sind so bunt wie die Show, die aus Gesang, Tanz, Comedy, Zauberei unterschiedlichster Art zusammengewürfelt ist. Die Regisseurin Di Cooke schweißt das Ensemble zusammen, das in den Monaten der Proben und Aufführungen zusammenwächst und sich gegenseitig zu besten Leistungen anspornt. Der Erfolg der Show hängt wohl auch damit zusammen, dass viele Bewohner direkt oder indirekt an den Aktivitäten beteiligt sind, sei es auf oder hinter der Bühne oder als Gewerbetreibende im erhöhten Touristenaufkommen. Als familiengerechte Inszenierung kommen Songs aus Der Zauber von Oz für die Kinder vor, die Älteren singen zu den Klängen der ehemaligen Band Queen mit, moderne Tanzeinlagen für die Jüngeren runden das Spektakel für alle Generationen und Geschmäcker ab. Der Comedian Paul Eastwood reißt teils zotige Witze und spielt auch in einzelnen Szenen mit. Er tritt mitten im Sommer im dicken Löwenkostüm auf und rät den Kindern scherzhaft, in der Schule aufzupassen und gut zu lernen, damit ihnen später so etwas erspart bliebe. Im Interview kommt Jens Meurer ihm näher, und Eastwood spricht von seiner Frau und seinem kleinen Sohn, und den Schwierigkeiten, denen nicht-prominente Künstler ausgesetzt sind, wenn sie an ihrem Beruf festhalten wollen. (Tragischerweise ist Paul Eastwood nach den Dreharbeiten durch einen Unfall ums Leben gekommen.)


„Großbritanniens Brexit-Turbulenzen sind ein einzigartiger Moment in der europäischen Geschichte. Dieser Moment betrifft uns alle, nicht nur die Engländer und es ist eine fesselnde Geschichte, die in jeder verletzlichen europäischen Gesellschaft, die von Populismus und Identitätspolitik geprägt ist, nachhallt. Es geht weniger um die Mechanismen des Austritts, sondern um den Versuch, die Mentalität und die Stimmung zu verstehen und zu vermitteln, die die Briten hierher geführt haben, und sie auf originelle, indirekte, filmische Weise zu erzählen.“


Der Film endet vor dem Brexit und kommt wegen Covid erst jetzt in die Kinos. Zu seiner Aufführung bei den Hofer Filmtagen reiste der gebildete und philosophierende Krabbenfischer John Lee an, ein überzeugter Befürworter des Brexits, der sich durch diese Reise aber als Europäer beweisen wollte. Mehr soll nicht über die Protagonisten und Protagonistinnen verraten werden, denn für Großbritannien-Fans ist der Film ein Geschenk.



Paul Eastwood als Löwe im Tableau von Der Zauberer von Oz | (C) Instant Film & uMedia


Jens Meurer hat schon mit An Impossible Project über einen Sammler analoger Technik den Balance-Akt zwischen dem Bewahren des Altbewährten und der Notwendigkeit des Wandels hinbekommen. In seinem neuen Film ist unser digitales Zeitalter mit einer klassischen Varieté-Show vor viktorianischer Kulisse sehr gut vereinbar. Alte und Junge, Befürworter und Gegner, Einheimische und Touristen sitzen vergnüglich zusammen und genießen die Aufführung. Denn das gemeinsame Erleben ist unverzichtbar. Wie es aussieht, wenn das nicht möglich ist, haben wir in der Zeit des Lockdowns erlebt. Dadurch haben aber alle die Erfahrung gemacht, wie unentbehrlich die Kunst ist. Und ob das Ende des Piers, metaphorisch gesehen, eine Sackgasse ist oder das Sprungbrett zu neuen Ufern, ist Ansichtssache.

*

Seit dem Brexit Anfang 2020 geben sich Covid, Krisen und Katastrophen die Klinke in die Hand und fegen global über alle hinweg, egal ob Mitglieder oder Nicht-Mitglieder. In den besten Fällen hat das dazu geführt, dass die Menschheitsfamilie enger zusammengerückt ist. Was Cromer angeht, so finden die Vorbereitungen für das Seaside Special 2023 mit vielen Attraktionen statt. Wie vielerorts auch, wird nach den vorübergehenden Schließungen längst wieder gespielt, auch am Ende des Piers, "cause that's the spirit, good old 'Blighty'".

Helga Fitzner - 19. Januar 2023
ID 14005
Weitere Infos siehe auch: http://farbfilm-verleih.de


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