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BERLINALE

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Zwischen den Jahren / Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes / Berlin Syndrome



Ein untersetzter, korpulenter Mann (Peter Kurth) kniet vor dem Bett und spricht das Vaterunser. Dann macht er sich durch die Kölner Dunkelheit auf den Weg zu seiner Nachtschicht als Wärter in einem Warenlager. Dieser Mann, der sich einfach nur Becker nennt, ist ehemaliges Mitglied einer Rockerbande und Ex-Häftling, der für Morde und andere Verbrechen lange gesessen hat und nun erfolgreich die ersten Schritte in ein bürgerliches Leben wagt. Den neuen Kollegen Barat (Leonardo Nigro) hält Becker zwar noch auf Distanz, weil dieser Ausländer und Ex-Polizist ist. Aber immerhin verhilft ihm Barat, engere Bekanntschaft mit der aufgeschlossenen Reinigungskraft Rita (Catrin Striebeck) zu machen.

Aus Verbundenheit besucht Becker sogar den Gefängnispfarrer, der ihm im Knast einen Weg zu Gott gezeigt hat. Der Pfarrer ist erleichtert, dass Becker seine alte Existenz ganz entschieden hinter sich lassen will. Doch die verbrecherischen Taten der Vergangenheit holen Becker wieder ein. Dies liegt nicht an seinen Exkumpanen, sondern an dem Mann, der durch Beckers Schuld seine Familie verloren hat. Dahlmann (Karl Markovics) kann und will nicht vergeben, verfolgt, beobachtet und bedroht Becker und schließlich auch dessen neue Freundin. Auf Dahlmanns Hass weiß Becker keine adäquate Antwort. Sein Opfer von früher drängt ihn in die Kriminalität zurück, wohlwissend dass dies für beide schreckliche Folgen haben wird.

Der Psychothriller Zwischen den Jahren des Kölner Drehbuchautors und Regisseurs Lars Henning (Jahrgang 1976) gehört zusammen mit Back for Good zu den positiven Überraschungen in der BERLINALE-Reihe "Perspektive Deutscher Film". Hennings Film ist spannende, teils beklemmende, aber in jeder Szene faszinierende Genre-Unterhaltung. Das stilsichere, in düsteren Bildern gedrehte Drama (Kamera: Carol Burandt von Kameke) wirkt, so merkwürdig das angesichts des fatalen Verlaufs der Handlung klingen mag, nicht vollkommen hoffnungslos oder abgründig. Ein Grund dafür ist die kraftvolle, nuancenreiche Verkörperung der Hauptfigur durch den Theater- und Filmschauspieler Peter Kurth, der als bärig-kantiger Typ trotz aller Verfehlungen und charakterlicher Mängel Sympathien beim Zuschauer weckt. Außerdem erzählt Zwischen den Jahren von einer misslungenen Vergebung, die aber gleichwohl als Alternative im Raum steht.

Regisseur und Drehbuchautor Henning verweist allerdings darauf, dass Gewalttaten lebenslange Spuren hinterlassen und bisweilen unverzeihlich sind. Der dramaturgische Kniff besteht darin, dass anders als in vielen amerikanischen Thrillern der letzten Jahrzehnte, nicht der Täter dieselbe Person geblieben ist, der rückfällig und damit zur Bedrohung für die Gesellschaft bzw. einen Helden wird, der ihn endgültig zur Strecke bringen muss. Stattdessen kann das Opfer von früher die Kraft zur Versöhnung, die der Täter anbietet, nicht aufbringen. So zwingt Lars Henning nicht nur den Täter, sondern auch die Zuschauer zum Nachdenken darüber, welcher Ausweg aus dem Psycho-Dilemma denn überhaupt übrigbleibt – und natürlich auch über die Folgen und den Kreislauf von Gewalt.





Zwischen den Jahren | (C) Frank Dicks


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Während in Zwischen den Jahren jede Szene ihre zwingende Berechtigung hat, bleiben leider etliche Einfälle in der Groteske mit dem hübschen Titel Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes unverbindlich, sprich: Autor und Regisseur Julian Radlmaier vertändelt in seinem Hochschulabschlussfilm viel komisches Potential. Wie bei der BERLINALE zu beobachten war, hat sich Randlmaier anders als sein Alter Ego im Film nicht in einen Windhund verwandelt. Ansonsten aber scheint der Film sehr viel Autobiografisches zu verarbeiten und ist Teil der im Titel angesprochenen Selbstkritik des Regisseurs: Julian (Randlmaier eben) ist Typ ewiger Student und schluffiger Großstadt-Bohemien, der sein Regiestudium vor allem betreibt, um bei jungen Berliner Studentinnen Eindruck zu schinden. Soweit nichts Besonderes also, aber wegen seiner Fähigkeit zur Selbstkritik und seines skurrilen Humors recht sympathisch. Hinter seiner harmlosen Fassade (nettes Gesicht, Locken, Designerbrille) schlummert wie bei fast allen Studenten ein Revolutionär mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Die nötige Prise Arroganz und Selbstbewusstsein scheint Julian zu fehlen, und zur praktischen Umsetzung dieser Überzeugungen findet sich keine so günstige Gelegenheit wie z.B. eine Demo zugunsten eines wegen seiner verheimlichten Stasi-Kontakte geschassten Senatsmitarbeiters. Stattdessen wagt der bourgeoise Möchtegernrevoluzzer und Möchtegernfilmemacher den Ausflug in die Produktion, genauer gesagt, er heuert bei einer Firma an, die Erntehelfern auf Apfelplantagen mit Minilöhnen ausbeutet. Dort kann er immerhin etwas Zeit mit seiner Angebeteten Camille (Deragh Campbell) verbringen, der die Schufterei deutlich weniger ausmacht und auch sonst genauer weiß, was sie will und was nicht.

Vielleicht hat Julian Randlmaier aus der Not eine Tugend gemacht und mangels überzeugender anderer Drehbuchideen zur Selbstbespiegelung gegriffen. Gottlob sprüht Randlmaiers Skript vor bizarren Figuren und unterhaltsamen Einfällen, die manchmal leider auf halber Strecke irgendwo in der mäandernden Handlung liegenbleiben. Aber immerhin erspart er den Zuschauern eine peinliche, selbstentblößende Nummernrevue. Die verschrobene Posse über eine frühzeitig gescheiterte, märchenhaft transformierte Künstlerexistenz gewinnt zwar nicht jene substanzielle Tiefe, die möglich gewesen wäre. Aber Randlmaier ist ja noch jung – und kein Hund.





Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes | (C) faktura film


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Bei all den schönen, unterhaltsamen Überraschungen soll der veritabelste Flop, den ich bei dieser BERLINALE begegnet bin, nicht verschwiegen werden: Der Psychothriller Berlin Syndrome (im "Panorama"-Programm) wird seinem Titel allenfalls in einer Hinsicht gerecht: Er verpasst jenen Zuschauern, die in den letzten 30 Jahren doch mal die eine oder andere Stunde im Kino oder vor dem Fernseher verbracht haben, das Trauma, das alles schon hunderte Male gesehen zu haben – und meistens besser! Die Handlung des Films trampelt nämlich auf ausgetretenen Pfaden, dass schon nach der ersten Viertelstunde klar wird, wie der Hase läuft. Eine australische Rucksacktouristin (Teresa Palmer) hat das Pech mitten in Kreuzberg auf einen jener scheinbar harmlosen, smarten Frauenversteher zu treffen, die in Wahrheit Psychosadisten sind und ihre jungen, weiblichen Opfer heimlich quälen und niedermetzeln. Wird als Stoff immer wieder gern genommen – meist aber in österreichischen Kellern, texanischen Reihenhäusern oder kanadischen Waldhütten angesiedelt.

Die einzige originelle Idee, mit der Regisseurin Cate Shortland und Autor Shaun Grant in Berlin Syndrome aufwarten, ist die Location: Der von Max Riemelt gespielte Psychokiller hält die Touristinnen in seiner Kreuzberger Hinterhauswohnung gefangen. Ein perfekter Ort, wenn man keine Ohren- und Augenzeugen haben möchte! Und wie es im Film gleich zu Beginn heißt, wimmelt es in der Stadt von leerstehenden Häuserblocks! Na dann willkommen in Berlin – warum also bei Wohnungsbesichtigungen lange anstehen? Aber Achtung: So manch netter Junge von nebenan hat sich an der Hausverwaltung vorbei Panzerglas in die schmalen Altbaufenster einbauen lassen!

Das ist das Problem an diesem halbwegs überzeugend gespielten, aber ansonsten vollkommen vermurksten Film: Er geht von unrealistischen Voraussetzungen aus und wählt einen Schauplatz, der partout nicht zur Geschichte passt, die noch dazu so ausgelutscht ist, dass kaum richtige Spannung aufkommen mag. Das brutale, sich steigernde Hin und Her zwischen Sadist und Opfer – es ist filmgeschichtlich so breitgetreten wie kaum ein anderer Topos. Dass ausgerechnet eine so begabte Regisseurin wie die Australierin Cate Shortland dieses unglaubwürdige Déjà-Vu inszeniert hat, die 2012 für das Mädchendrama Lore zu Recht mit Preisen überhäuft wurde, ist das eigentliche Drama an diesem Flop. Unter welchem Berlin-Syndrom hatte sie zu leiden?





Berlin Syndrome | (C) Berlinale


Max-Peter Heyne - 18. Februar 2017
ID 9849
Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinale.de


Post an Max-Peter Heyne

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