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BERLINALE

WETTBEWERB

Fuocoammare / 24 Wochen



Zur Halbzeit der Berlinale herrscht gute Laune bei den Akkreditierten vor, die erleichtert feststellen, dass sie 2016 einen der besseren Jahrgänge erwischt haben. Tatsächlich gab es dieses Jahr nur wenig Grund zu murren. Natürlich herrschen im Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären die Dramen vor, in denen ernste Themen verhandelt werden. Etliche Regisseure haben sich aber überzeugend bemüht, ihre Geschichten auf originelle, aufschlussreiche und handwerklich ansprechende Weise zu erzählen, sodass die Härte der Bilder nicht abschreckend wirkt.

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So stellt der italienische Regisseur Gianfranco Rosi in seinem Dokumentarfilm Fuocoammare (Feuer auf See) mit großer Bedacht das Leben der einfachen Leute auf Lampedusa dem Schicksal der Verzweifelten gegenüber, die von Afrika jährlich zu Tausenden in Richtung der Mittelmeerinsel zu gelangen versuchen. Mit geradezu kontemplativer Ruhe illustriert Rosi, wie das Leben auf dem Vorposten Europas scheinbar unberührt vor den ständigen Tragödien auf hohe See einige Kilometer südlicher weitergeht, so als wäre der Ort des Geschehens nicht Lampedusa, sondern irgendeine europäische Großstadt. Hier die spielenden Kinder, die arglos herumstreunen – dort die Flüchtlinge, die nachts im Registrierungscamp singend über ihr Schicksal wehklagen. Das sind bewusst irritierende Kontraste über die Gleichzeitigkeit von Glück und Grauen auf einem Fleckchen Erde.

Dass Rosis dramaturgisches Konzept nicht ganz aufgeht, liegt an der mangelnden Balance: Rosi widmet den Einwohnern und ihrem Leben mehr Filmzeit (und damit auch mehr Details) als den Geflüchteten. Diese werden immerhin nicht nur als eine Masse von Menschen gezeigt (was in manchen Szenen wie dem Blick auf die überfüllten Boote unvermeidlich ist), sondern auch als Individuen. Was Rosis Film nachhaltig ins Gedächtnis brennt, ist die allmähliche Steigerung in der Bebilderung des Schreckens: Sind anfangs nur Funksprüche der Verzweifelten aus dem Off zu hören, dann schließlich grausige Schilderungen eines örtlichen Arztes über den Alltag bei der Behandlung von Geflüchteten, wird der Zuschauer erst kurz vor Schluss mit einer besonders dramatischen Rettungsaktion konfrontiert, bei der die italienische Küstenwache neben vielen völlig entkräfteten Menschen auch etliche Tote zu bergen hat. Bilder des Schreckens einer europäisch-afrikanischen Tragödie, die zur Gewohnheit geworden ist und an der man schier verzweifeln könnte.





Fuocoammare | (C) Berlinale


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Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts eines Schicksals, das nun wirklich nicht zu beeinflussen ist, prägt auch die Story im einzigen deutschen Wettbewerbsbeitrag dieses Jahrgangs. 24 Wochen konnte niemanden kalt lassen und ist ein ernstzunehmender Aspirant auf mindestens einen der Bären-Preise, was umso bemerkenswerter ist, da es sich erst um den zweiten Film der 34-jährigen Drehbuchautorin und Regisseurin Anne Zohra Berrached handelt. Die ehemalige Sozial- und Theaterpädagogin erzählt in 24 Wochen von einem glücklichen Ehepaar (nuancenreich gespielt von Julia Jentsch und Tatort-Reiniger Bjarne Mädel), dass in Erwartung des zweiten Kindes eine bittere Nachricht der Ärzte erhält: Ihr Kind wird geistig behindert zur Welt kommen. Die Eltern entscheiden sich nach dem ersten Schrecken und gründlicher Überlegung für die Geburt, in der Hoffnung, für alles, was da kommt, zusammen stark genug zu sein.

Aber die Diagnosen werden immer schlechter, je weiter die Schwangerschaft voranschreitet. Ein schwerwiegender Herzfehler beim Fötus wird umfangreiche Operationen mit kaum abschätzbaren Folgen nach der Geburt nötig machen, wenn das Kind eine Lebenschance erhalten soll. Mit dem Paar, das durchgehend in Nah- und Großaufnahmen gefilmt wurde, gehen auch die Zuschauer durch eine Achterbahnfahrt der Gefühle, in der sich Zuversicht und Verzweiflung abwechseln. Noch nie wurde das Dilemma, das die ausdifferenzierten medizinischen Gentests bei werdenden Eltern mittlerweile auslösen, so intensiv vermittelt wie in diesem Film. Der Entscheidungsdruck vergiftet schließlich auch das Verhältnis der Ehepartner. Die moralischen Gewissensnöte und die persönlichen Ängste der Eheleute exerzieren die (männlichen) Drehbuchautoren und die Ko-Autorin und Regisseurin konsequent bis zum Ende durch, das hier fairerweise nicht verraten werden soll. Der Ausgang stand aber von vornherein fest, wie die Filmemacher bei der Berlinale-Pressekonferenz berichteten. Deren Erleichterung, aber auch die der versammelten Medienvertreter, darüber, dass der Film trotz seines schwierigen Themas die Zuschauer zu packen und in die Geschichte hineinzuziehen vermochte, erfüllte diesen Berlinale-Tag wie ein lauer Frühlingswind.





24 Wochen auf der Berlinale | (C) Friede Clausz


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Umso bitterer wirkte der Reinfall der Literaturverfilmung von Jeder stirbt für sich allein als internationale Koproduktion durch Regisseur und Ex-Schauspieler Vincent Perez einen Tag später. Decken wir über dieses unnötige Produkt, das auf den internationalen Markt schielt und wie im Labor zusammengemanscht wurde, den Mantel gnädigen Schweigens.

Max-Peter Heyne - 18. Februar 2016
ID 9147
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de


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