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Plagiate aus dem Netz. Das Copy-Paste-Syndrom und die Erforschung des Alltags am Wörthersee

von Malte Olschewski



Die Studentin Nicole D. hat =autoethnographisch= geforscht, um im Sommer 2006 an der Universität Klagenfurt eine Diplomarbeit über das Wellenreiten auf Bali in Angriff zu nehmen. Der Alltag scheint im Klagenfurter Institut für Kommunikationswissenschaft besonders genau erforscht zu werden. Gerhild Sch. ließ =Haustierhalter versus Nichthaustierhalter= antreten. Andrea M. schrieb eine Diplomarbeit über =Bierwerbung im Vergleich Österreichs mit Irland.= Bei ihrer Magisterarbeit über =Wickie und die starken Männer= hat die Studentin Elisabeth N. zu oft die Tasten =Kopieren= und =Einfügen= gedrückt. Ihre Abhandlung über den Wikingerknaben (Arbeit Nr. K-279/Winter) geriet zu einer Versammlung von nicht ausgewiesenen Zitaten aus rund 20 Quellen. =Wickie= wurde als Plagiat entlarvt. Gegen N. wurde am 8.8. von der Universität Klagenfurt ein Verfahren zur Aberkennung des Magistertitels eingeleitet. Außerdem verlor sie ihre Assistentenstelle im Institut für Kommunikationswissenschaft, die sie nach Beurteilung ihrer Arbeit mit =sehr gut= erhalten hatte. Die Ex-Assistentin will nun gegen die Universität klagen. Da es um Grundsätzliches geht, wird an der Universität am Wörthersee im September ein =heißes= Semester beginnen.

Der Salzburger Privatdozent Stefan Weber schätzt, dass ein gutes Drittel der Arbeiten an österreichischen Universitäten über weite Strecken Plagiate sind. Der akademische Detektiv kann auf elf Fälle zurückblicken, in denen er Dissertationen und Diplomarbeiten als Plagiate entlarvt hat. Weber war auf das Problem gestoßen, nachdem seine eigene Dissertation über Erkenntnistheorie über weite Strecken gleich mehrmals kopiert worden war. So hatte an der Universität Tübingen ein Student mit einer Dissertation über =Beobachterzentrierung und negative Theorie= ein Doktorat mit Auszeichnung erworben. Da er nachweisbar aus Webers Arbeit kopiert hatte, wurde ihm der Titel wieder aberkannt. Webers letzter Fall betrifft eine Arbeit über Homosexualität im Dritten Reich, die am Salzburger Institut für Politikwissenschaft mit =sehr gut= bewertet worden war. Die Studie erschien auch als Buch, das von der Universität in einer eigenen Veranstaltung präsentiert wurde.

An der Universität Klagenfurt hat Weber mit =Wickie= bisher nur einen Fall aufgedeckt, doch will er weitere Arbeiten des =Instituts für Kommunikationswissenschaften= unter die Lupe nehmen. Das Institut unter Leitung von Matthias Karmasin hat die Studierenden bereits via Internet gewarnt: =Plagiate Stop!= heißt es auf einem Stoppschild in dicken Buchstaben. =In letzter Zeit mussten wir bei schriftlichen Arbeiten... eine Zunahme an nachgewiesenen Plagiaten feststellen... Ab sofort ist daher mit allen Arbeiten eine eidesstattliche Erklärung abzugeben, in welcher mit Unterschrift bestätigt werden muss, die vorgelegte Arbeit selbstständig verfasst zu haben...Zusätzlich ist eine Version auf CD abzugeben...Bei Plagiatsvergehen kommt es zu einer Verwarnung durch den Institutsvorstand....= Die Universitäten in Wien und in Klagenfurt wollen nun für das kommende Semester Software-Systeme installieren, mit denen Plagiate schnell erkannt werden. Das Problem reicht in die Grundlagen wissenschaftlicher Forschung. Zitate aus vorausgegangenen Werken und Arbeiten sind notwendig und sollten erlaubt sein. Sie müssen aber als solche genau ausgewiesen werden. Hier ist die Grenze je nach Fachbereich umstritten, doch gilt allgemein, dass eine Arbeit nicht mehr als zwanzig Prozent Zitate enthalten sollte. Textübernahmen ohne Quellenangaben sind als Plagiate nicht erlaubt.

Elisabeth N. hatte ihre Arbeit über Wickie auf 121 Seiten angelegt, von denen, wie Weber genau nachwies, 25 Seiten Plagiate und nahezu wortgleiche Kopien anderer Arbeiten waren. Die aus Zürich stammende Studentin nutzte vor allem eine an der TU Dresden von Jenny Haroske abgegebene Seminararbeit mit dem Titel: =Sozialisation durch Kinderfernsehen=, sowie eine Arbeit von Kerstin Esser über =Bewegung im Zeichentrickfilm.= Zusätzlich hat Elisabeth N. aus verschiedenen, anderen Quellen geschöpft, wie etwa aus den =Arbeitsblättern für kognitive Entwicklung=, aus dem ZDF-Jahrbuch und aus der =Wikipedia=. Das Fazit der Arbeit brachte kaum welterschütternde Einsichten: =Kinder sehen Wickie gern, weil die Sendung lustig und spannend ist.= Die Banalität des Themas hat die Studentin mit bedeutungsvoll klingenden Wortgirlanden und fachchinesischen Schachtelsätzen zu verhüllen versucht. Professor Rainer Winter benotete im Herbst 2004 die Arbeit mit =sehr gut.= Frau N. bewarb sich in der Folgezeit um eine neu zu besetzende Stelle als Assistentin in dem Institut. Nach der Ausschreibung, unter anderem auch in der Hamburger =ZEIT=, meldeten sich dreißig, kompetente Bewerber, doch es war Frau N., die den Posten erhielt. Die frisch gebackene Assistentin begann eine enge Zusammenarbeit mit Professor Winter. Beide haben im Oktober 2005 eine internationale Tagung über =Cultural Studies= an der Universität Klagenfurt organisiert.

Weber hatte schon im April 2006 =Wickie= als Plagiat enttarnt. Die Universität Klagenfurt setzte daraufhin eine Untersuchungskommission ein. Professor Winter meldete sich von Forschungsarbeiten in North Carolina zu Wort. Er verfasste am 12.4.2006 eine so genannte OTS-Meldung, die über das jedem offen stehende Portal der Nachrichtenagentur APA lief und vom ORF übernommen wurde. In dieser Eigenmeldung hieß es: =Die kritisierte Diplomarbeit...ist sehr gut und methodisch innovativ.... Weber selbst hat nach meinem Wissen nie empirisch geforscht... Als eher esoterischer Theoretiker und Nicht-Soziologe fehlt ihm anscheinend die Kompetenz, um qualitativ-empirische Arbeit beurteilen zu können... Seine Ausführungen erwecken zudem den Eindruck, dass es ihm um die Diskreditierung eines neuen und international erfolgreichen Forschungsbereiches geht, der sich mit der alltäglichen Mediennutzung beschäftigt und den er bei seiner Karriereplanung anscheinend übersehen hat...= Winter stellt eine =schwere Rufschädigung= und den Versuch fest, die =Karriere einer jungen Wissenschaftlerin zu zerstören". Er äußert die Hoffnung, dass ihn die Untersuchungskommission in seinem Urteil über =Wickie= voll bestätigen würde. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die entlassene Assistentin will bei einem möglichen Gerichtsverfahren aus Deutschland Gutachten vorlegen, in denen die Qualität ihrer Arbeit bestätigt wird. Bei dem von Winter zitierten =neuen, international erfolgreiche Forschungsbereich= handelt es sich offenbar um Arbeiten über den Alltag. Darüber gehen die Meinungen auseinander. Mann kann sie für notwendig oder aber für überflüssig und entbehrlich halten. Mit der =Diskreditierung der Alltagsforschung= war jedenfalls ein neues Schlagwort geboren.

Weber wehrte sich via Internet gegen die Angriffe. Er hat das bisher nicht genau bekannte Ausmaß des Plagiates als =Wickie-Homepage= ins Netz gestellt. Nun kann sich jeder überzeugen, in welchem Ausmaß die Studentin ihre Arbeit kopiert hat. Vor allem in den Schlüsselstellen hat sie 1:1 andere, immer ungenannte Quellen übernommen. Außerdem beschrieb Weber, wie Frau N. im Kindergarten Annabichl Episoden der TV-Serie vorgeführt und anschließend die Kinder befragt hat. Weber sieht die gesamte wissenschaftliche Textkultur bedroht. Die Wirklichkeit würde immer mehr "ergoogelt" werden. In seinem Buch "Das Google-Copy-Paste-Sydrom" schreibt er: "Eine Textkultur ohne Hirn leistet nicht nur dem Netzplagiarismus Vorschub. Cyber-Neusprech bzw. Weblish, Chat und SMS-kontaminierte Bewußtseine, affirmative Bagatelle-Forschung und Bullshit-PR schaffen ein Milieu, in dem eine Kritik des Internets und seiner Verwendung systematisch ausgeblendet wird....Ein grundlegender Wandel der Kulturtechnik zeichnet sich ab."

Weber verweist auch auf die Banalität der Themen, die an der Universität Klagenfurt vor allem am Institut für Kommunikationswissenschaft verfasst werden. Unter =www.uni-klu.ac.at/mk0/katalog= kann man all diese Themen einsehen. Es ist klar, dass sich hinter einem nichts sagenden Titel eine gute Arbeit verbergen kann. Es lassen sich aber aus den angeführten Titeln gewisse Trends herauslesen, bei denen sich dann doch die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz aufdrängt. Wer heute mit offenen Augen durch die Strassen geht, wird zugedeckt, überschüttet und begraben von einer Fülle von Problemen. Die Gesellschaft verändert sich vor allem durch eine rasende Kommunikation. Man würde erwarten, dass dies auch in den Diplomarbeiten und Dissertationen eines Universitätsinstituts für Kommunikation einen gewissen Niederschlag findet. Bei den Klagenfurter Arbeiten ist das nur selten der Fall. Vielmehr zeigt sich ein gewisser Hang ins Bequeme und eine Bevorzugung von Themen aus der Fernsehwelt. So etwa sind gleich vier Arbeiten den Nanny-Serien gewidmet. Dabei muss der Titel möglichst lang und bedeutungsvoll sein: = Weibliche Identitätskonstruktion aus der feministischen Perspektive der Cultural Studies, illustriert anhand von Bedeutungsangeboten der Sitcom: Die Nanny." Es ist fraglich, ob das Thema =Courtney versus Britney= eine Diplomarbeit tragen kann. =Britney Spears und ihre Fans= ist der Titel einer weiteren Arbeit.

Nicole D. kann im Klagenfurter Rahmen als Schöpferin der bislang unbekannten =autoethnographischen= Forschung gelten. Der volle Titel ihrer möglicherweise aus einem Badeurlaub abgeleiteten Erkenntnisse: =Die Rolle (bzw. Bedeutung) oder die Rolle der Medien und das Wahrnehmen (bzw.Erleben) des Wellenreitens im Sommer 2006 auf Bali: Eine autoethnographische Studie.= Der Studie über =Nonverbale Kommunikation beim Volleyball= der Studentin Martina M. ist vielleicht eine Teilnahme an den Volleyball-Turnieren im Klagenfurter Strandband vorausgegangen. Ronald I. interessiert offensichtlich sich für Motorräder. Titel seiner Arbeit: =Wir verkaufen ein Lebensgefühl... und ein Motorrad bekommt man gratis dazu. Zunehmend wichtiger werdende Wert- und Erlebnisorientierung moderner Marken mit besonderem Fokus auf der strategischen und operativen Kommunikationspolitik und praktischen Illustrationen anhand der Harley Davidson.= Auch das Paragleiten war eine Diplomarbeit wert. Jasmin G. hielt es lieber mit dem Wintersport: "Petzenbär versus Blitz aus Kitz: Eine Wirkungsanalyse unterschiedlicher PR und Selbstdarstellungsstrategien am Beispiel der Spitzensportler Rainer Schönfelder und Benjamin Raich" war als Diplomarbeit die Folge. Tanja St. wählte das Thema: =Kommissar Rex in Portugal: Eine Untersuchung im Hinblick österreichischer Identität.= Grammatikalisch richtig wäre gewesen: =Im Hinblick auf die österreichische Identität.

Walter E. analysierte eingehend das Mitteilungsblatt der österreichischen Bundesbahnen ÖBB: =Inwieweit entspricht der ÖBB-Insider in Aufmachung und Wirkung dem deklarierten Ziel von Mitarbeiterzeitschriften." Doch muss der Bahnforscher mit Konkurrenz rechnen, denn die Studentin Patrica R. schrieb ihre Arbeit über "Unternehmenskommunikation und Ethik am Fallbeispiel ÖBB." Die Ortschaft Finkenstein in Kärnten erfährt von Tanja S., was zu tun sei: "PR-Strategien für die Tourismusgemeinde Finkenstein" lautet der Titel ihrer Arbeit. =Nonprofit PR: Am Fallbeispiel des österreichischen Rudervereins" von Kurt T. gibt immerhin klar an, wohin er mit seiner Arbeit rudert. Sabine S. hat das im Titel ihrer Arbeit nicht geschafft: =Die Kraft der Widersprüche und die Utopie des Dialogs: Beratungs- und Forschungsprojekte zum Wandel von klassischer hin zu einer dialogorientierten, internen Öffentlichkeitsarbeit von Haupt- und Ehrenamt am Beispiel des Roten Kreuzes.=


Malte Olschewski - red / 15. August 2006
ID 00000002603
Anmerkung der Redaktion:
Das Thema um wissenschaftliche Forschung und Nutzung von Fremdtexten wird derzeit viel diskutiert. Der Autor des vorliegenden Textes vertritt eine Meinung zu dem Thema, die sicher auch auf Widerspruch stoßen kann. Wir möchten daher unseren Lesern direkt die Möglichkeit geben, ihre Meinung zu äußern.
Sollten Sie also gerne eine Stellungnahme oder Erweiterung zur Diskussion beitragen, schreiben Sie einfach eine E-Mail an: streitpunkt_plagiate@kultura-extra.de


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