Einer der
Größten:
Lermontow
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Michail Jurjewitsch Lermontow (1814-1841) | Bildquelle: Wikipedia
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Im Vorwort zur zweiten Auflage seines bekanntesten Werks, Ein Held unserer Zeit, beklagt sich Michail Jurjewitsch Lermontow: „Unser Publikum gleicht dem Provinzler, der aus der Unterhaltung zweier Diplomaten einander feindlich gesinnter Höfe die Überzeugung gewinnt, dass sie der gegenseitigen zärtlichsten Freundschaft zuliebe ihre Regierung betrügen.“ Und er mokiert sich über jene Leser, die sehr feinsinnig bewiesen, „der Verfasser habe sich und seine Bekannten porträtiert…“
Lermontow, obwohl mehrfach übersetzt, gehört heute nicht zu den russischen Schriftstellern, die man selbst bei belesenen Deutschen als bekannt voraussetzen darf. Sein Werk ist schmal, aber nicht nur von großer Bedeutung für die russische Literaturgeschichte, sondern auch von erstaunlichem psychologischem Scharfblick und von überraschender Modernität.
Lermontow wurde am 15. Oktober 1814 in Moskau geboren. Er hat Lyrik, erzählende Prosa und das Drama Maskerade geschrieben. Er fiel 26-jährig am 27. Juli 1841 in einem Duell. Als sein vielleicht bedeutendstes Werk kann der anfangs zitierte Roman Ein Held unserer Zeit gelten, der aus mehreren in einander verschachtelten Erzählungen besteht. Mit dessen zentraler Figur Petschorin hat Lermontow den Typus des so genannten „überflüssigen Menschen“ literarisch unübertrefflich gestaltet. Die Bedeutung dieses Typus für die russische Literatur von Puschkins Eugen Onegin über Gontscharow, Turgenjew, Dostojevskij und Tschechow bis in die Gegenwart, kann gar nicht überschätzt werden. Was sie mehr als alles andere charakterisiert, ist die „Langeweile“, was man französisch „ennui“ nennt, eine gewisse Blasiertheit. Es gibt dafür soziologische Erklärungsansätze, auch literarische Moden spielen eine Rolle. Lord Byron diente ganz Europa zeitweise als Vorbild. Melancholie kennzeichnet auch die deutsche Literatur der Epoche, man denke etwa an Mörike, Lenau oder Grillparzer. Die Namensgebung des Helden unserer Zeit enthält übrigens eine Anspielung auf Onegin: Petschora und Onega sind beide nordrussische Flüsse.
Das Segel, das wohl bekannteste Gedicht Lermontows, das in Russland jeder Schüler auswendig hersagen kann, ist aus dem Jahr 1832. Es beginnt mit zwei rhetorischen Fragen: „Wo Meer und Himmel sich vereinen,/ Erglänzt ein Segel, weiß und weit –/ Was trieb es aus dem Land der Seinen? Was sucht es in der Einsamkeit?“
Lermontows Und einsam und traurig ist von 1840. Es hebt unvermittelt an: „Und einsam und traurig, und niemand steht helfend bereit,/ Im Leide die Hand dir zu reichen…“ Der Schluss von Lermontovs Gedicht lautet: „Das Leben, wie kühl und bedächtig man um sich auch blickt,/ Ist nichts als ein Scherz nur, so leer und so nichtig…“
Einsam tret ich auf den Weg, den leeren wurde 1841 geschrieben. Die Übersetzung stammt von Rainer Maria Rilke. „Einsam tret ich auf den Weg, den leeren,/ Der durch Nebel leise schimmernd bricht;/ Seh die Leere still mit Gott verkehren/ Und wie jeder Stern mit Sternen spricht.“
In Bela, der einleitenden Erzählung von Ein Held unserer Zeit, wird dieser „Held“ Petschorin charakterisiert. Er sagt von sich selbst: „Da überkam mich Langeweile… Ich wurde bald darauf in den Kaukasus versetzt, das war die glücklichste Zeit meines Lebens. Ich hoffte, mir würde die Langeweile unter dem Kugelregen der Tschetschenzen vergehen. Vergebens. Nach einem Monat hatte ich mich so an ihr Pfeifen und an die Nähe des Todes gewöhnt, dass ich wahrhaftig mehr auf die Mücken achtete – und ich langweilte mich ärger denn je, weil ich beinahe meine letzte Hoffnung verloren hatte.“
Im Thomas Bernhards Glenn Gould-Roman Der Untergeher wird über den Charakter des Freundes Wertheimer gesprochen. „Tatsächlich könnte ich ja sagen, er war zwar unglücklich in seinem Unglück, aber er wäre noch unglücklicher gewesen, hätte er über Nacht sein Unglück verloren, wäre es ihm von einem Augenblick auf den anderen weggenommen worden, was wiederum ein Beweis dafür wäre, dass er im Grunde gar nicht unglücklich gewesen ist, sondern glücklich und sei es durch und mit seinem Unglück, dachte ich.“ Ein Lermontowscher Held unserer Zeit?
In der ersten Szene von Thomas Bernhards Jagdgesellschaft sagt der „Schriftsteller“: „Fortwährend lese ich/ wie Sie wissen Lermontow/ […] Zwei Stunden Lermontow/ und dann wieder zwei Stunden Lermontow“. In der letzten Szene des Stücks liest der Schriftsteller, wie zum Beleg, eine längere Passage aus Lermontovs Erzählung Der Fatalist – aus Ein Held unserer Zeit – vor. Freilich: nur Provinzler meinen, „der Verfasser habe sich und seine Bekannten porträtiert…“
Heute jährt sich zum 180. Mal der Todestag von Michail Jurjewitsch Lermontow.
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Thomas Rothschild – 27. Juli 2021 ID 13051
Weitere Infos siehe auch:
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