Das Segel
von Lermontow
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Michail Jurjewitsch Lermontow (1814-1841) | Bildquelle: Wikipedia
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Zur Abwechslung einmal ein Gedicht:
Парус.
Es gehört zu den bekanntesten Dichtungen der russischen Literatur, stammt von Michail Lermontov, und jeder Schüler in Russland kann es auswendig hersagen.
Hier das Gedicht im Original:
"Белеет парус одинокий
В тумане моря голубом!..
Что ищет он в стране далекой?
Что кинул он в краю родном?..
Играют волны - ветер свищет,
И мачта гнется и скрыпит...
Увы! он счастия не ищет
И не от счастия бежит!
Под ним струя светлей лазури,
Над ним луч солнца золотой...
А он, мятежный, просит бури,
Как будто в бурях есть покой!"
Schon der erste Vers – „Beleet parus odinokij“ – ist phonetisch wie syntaktisch von unüberbietbarer Schönheit – und nicht übersetzbar. Er beginnt mit dem Prädikat – eine Wortstellung, die das Deutsche nicht zulässt –, mit einem Verb, das im Deutschen keine Entsprechung hat und etwa „weiß schimmern“ bedeutet. Ihm folgt das Subjekt – „ein Segel“ – dem, wiederum im Deutschen normalerweise unüblich, das Attribut „einsam“ nachgestellt ist. Der sowjetische Schriftsteller Valentin Kataev hat 1936 mit seinem Roman, der auf Deutsch den Titel Es blinkt ein einsam Segel trägt, an Lermontovs Gedicht erinnert.
Nur wenige Gedichte der Weltliteratur vereinen in sich so eindrucksvoll Melancholie und Rebellion, stimmig ausgelöst von einem Dingsymbol – dem titelspendenden „Segel“ – wie dieses Meisterwerk eines Achtzehnjährigen. Das Glück liegt weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft. Ersehnt wird vielmehr die Unruhe, der Sturm. Das Gedicht ist ein Gleichnis. Es bedarf keines Personalpronomens, damit der Leser begreift, dass da einer von sich selbst spricht. Die dialektische Kraft von Lermontovs Segel wird besonders deutlich, wenn man es mit Eduard Mörikes im selben Jahr 1832 entstandener zugleich wehleidiger und masochistischer Verborgenheit vergleicht, die übrigens wie jenes zur Vertonung einlädt:
"Lass, o Welt, o lass mich sein!
Locket nicht mit Liebesgaben,
Lasst dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein!
Was ich traure, weiß ich nicht,
Es ist unbekanntes Wehe;
Immerdar durch Tränen sehe
Ich der Sonne liebes Licht.
Oft bin ich mir kaum bewusst,
Und die helle Freude zücket
Durch die Schwere, so mich drücket
Wonniglich in meiner Brust.
Lass, o Welt, o lass mich sein!
Locket nicht mit Liebesgaben,
Lasst dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein!"
Mörike starb 70jährig nach einem unbefriedenen Leben und Konflikten mit seiner Familie. Lermontov fiel mit 26 Jahren im Duell.
Es gibt unzählige Versuche, Lermontovs Gedicht ins Deutsche zu übertragen. Heinrich Greifs Version lautet so:
"Wo Meer und Himmel sich vereinen,
Erglänzt ein Segel, weiß und weit –
Was trieb es aus dem Land der Seinen?
Was sucht es in der Einsamkeit?
Es pfeift der Wind. Die Wellen drohen.
Es knarrt der Mast. Das Segel schwebt
Nicht vor dem Glück ist es geflohen.
Es ist nicht Glück, wonach es strebt.
Strahlt auch in Gold der Himmelsbogen,
Und glänzt auch noch so blau das Meer –
Das Segel lechzt nach Sturm und Wogen,
Als ob in Stürmen Ruhe wär."
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Thomas Rothschild - 24. September 2019 ID 11698
Weitere Infos siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Michail_Jurjewitsch_Lermontow
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