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Buchbesprechung

Lesen im Urlaub >>> Delphine de Vigan, Das Lächeln meiner Mutter



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„Natürlich setze ich zusammen und fülle Lücken, ich arrangiere alles nach meiner Art. Indem ich Lucile näherzukommen versuche, entferne ich mich nur noch ein bisschen weiter von ihr.“ (Delphine de Vigan, Das Lächeln meiner Mutter, S. 136)


Das Leben schreibt bekanntlich die bewegendsten Geschichten. In Frankreich gibt es eine ganze Welle interessanter autobiographischer Romane, in denen sich die Autoren mit ihrem familiären Hintergrund auseinandersetzen. Édouard Louis widmet so seinen Bestseller Das Ende von Eddy (2015) Didier Eribon und dessen autobiographischem Werk Rückkehr nach Reims (2016). Beide Autoren kommen aus dem Arbeitermilieu und hatten hier Schwierigkeiten mit ihrem Coming Out. Die Französin Delphine de Vigan setzt sich hingegen in Das Lächeln meiner Mutter (2013) mit ihrer Beziehung zu ihrer Mutter auseinander. Sie zeichnet dabei ein lebendiges Porträt einer schwierigen, ebenso interessanten wie unnahbaren Frau - Lucile.

Ausgangspunkt ist der Selbstmord Luciles mit 61 Jahren. Delphine de Vigan findet ihre Mutter tot in deren Wohnung vor. Die Gedanken an das Leben ihrer psychisch labilen Verwandten lassen sie daraufhin nicht mehr los. Die erfolgreiche Schriftstellerin spricht mit ihrer eigenen Schwester und befragt die zahlreichen Geschwister sowie frühere Weggefährten ihrer Mutter. Über drei Generationen hinweg entwirft sie ein sehr persönliches und differenziertes Bild einer zurückhaltenden, ehrgeizigen und manchmal grenzüberschreitenden Frau, die oft mit den eigenen Lebensumständen haderte.

De Vigan hebt mit Kursivschrift eigene Aufzeichnungen ihrer Mutter hervor, die sie in ihrem Roman einbettet. Lucile, deren Eltern nach dem Unfalltod ihres jüngeren Bruders Antonin den Adoptivsohn Jean-Marc in die Familie aufnehmen, setzt sich in jungen Jahren mit der eigenen Vergänglichkeit auseinander:


„In Luciles Aufzeichnungen über ihre Kindheit, die wir ganz unten in einem Karton fanden, las ich über Jean-Marc Folgendes: So wurde mir trotz aller Erklärungen und allen Leugnungen vage klar, dass wir austauschbar waren. Danach konnte ich nie wieder zu einer gegenteiligen Überzeugung gelangen, weder in meinen Liebesbeziehungen noch in meinen Freundschaften.“ (S. 77)


Drei von Luciles acht Geschwistern sterben in jungen Jahren. Diese Verlusterfahrungen prägen Lucile. Im Alter von 18 Jahren wird sie schwanger und bringt Delphine zur Welt. Delphine nimmt ihre Mutter, die mehrmals ihre Lebenspartner wechselt und auch sonst nicht üblichen Konventionen entspricht, oft als zerbrechlich wahr:


„Wenn Lucile von anderen Müttern oder mit ihnen sprach, dann sagte sie (auch wenn sie deren Vornamen kannte und diese Frauen sie mit 'Lucile' anredeten) immer 'Madame Ramaud' oder 'Madame Gibault'. In diesem Madame steckte eine Art Respekt, der sicher auch mit dem Altersunterschied zu tun hatte, aber, so scheint mir, auch mit der Vorstellung, diese Frauen seien, mehr, als sie selbst es je sein würde, Damen, im Leben verankert und imstande, sich darin zu halten.“ (S. 179)


Lucile erscheint mit ihrer Mutterrolle oft überfordert. Aufgrund plötzlich auftretender Wahnvorstellungen gefährdete Lucile Delphine und ihre Schwester sogar selbst. Obwohl Lucile unter schweren Depressionen leidet und immer wieder Klinikaufenthalte hat, ist sie über weite Strecken ihres Lebens unter anderem als Sozialarbeiterin, Stenotypistin oder Sekretärin berufstätig. Die Autorin beobachtet mit gemischten Gefühlen die Männerbekanntschaften ihrer Mutter, die oft deren Schwermut unterstützen:


„Und dennoch fand Lucile bei diesem von Todesgedanken verfolgten Jungen eine Art Sanftheit. Die Verbindung zwischen Lucile und Niels gleicht dem italienischen Adjektiv morbido, das, anders, als man denkt, wenn man (wie ich) dieser Sprache unkundig ist, nicht morbide bedeutet, sondern weich. Wenn ich heute die Beziehung zu verstehen versuche, die Lucile und Niels verband, dann scheint mir darin eben diese Ambivalenz zu herrschen: Meine Mutter empfand eine Art Frieden und Erleichterung, als sie derart engen Umgang mit jemanden pflegte, der von einer mindestens ebenso tiefen Verzweiflung umgetrieben wurde wie sie.“ (S. 186-187)


Delphine de Vigan reflektiert Gespräche mit ihren Tanten oder Onkeln über ihre Mutter und schmückt auch mal Schreibblockaden detailreich aus (s. S. 181). Schmerzlich wird der Autorin immer wieder bewusst, dass sie gegenüber ihrer Mutter Rollenmuster einübte, um mit den Herausforderungen einer psychisch labilen Frau zurechtzukommen. Die Autorin lässt den Leser an einem komplexen familiären System teilhaben, in welchem nach außen hin oft der idyllische Schein gewahrt wird. Familiäre Katastrophen werden oft nur angedeutet und selten eindeutig geklärt. Da es meist zu keiner wirklichen Konfrontation kommt, bleiben Konflikte oft in der Schwebe, was beim Lesen manchmal frustriert. Die Familienangehörigen erscheinen in erster Linie aufopferungsbereit einander gegenüber. Verletzbar und rebellisch sonderte sich Lucile ab, ohne sich jedoch wirklich zu lösen. Mit Das Lächeln meiner Mutter gelingt Delphine de Vigan eine atmosphärische und differenzierte Hommage an ihre Mutter. Das liebevoll detailreich ausgeschmückte, literarische Denkmal erinnert an das Leben einer besonderen Frau, ganz im Sinne der Autorin:


„Mehrere Monate benutzte ich Luciles Dauerkarte für den Nahverkehr (die Abbuchung war erfolgt, bevor ihr Konto geschlossen wurde) und spürte dabei eine seltsame Genugtuung: In den Augen der RATP, der die Fahrten erfasst, nahm Lucile die Metro, fuhr sie durch ganz Paris, lebte sie noch.“ (S. 385)
Ansgar Skoda - 20. März 2017
ID 9922
Delphine de Vigan | Das Lächeln meiner Mutter
Taschenbuch, 400 Seiten
EUR 10,99
Verlag Droemer, 2013
ISBN 978-3-426-30412-9


Weitere Infos siehe auch: https://www.droemer-knaur.de/buch/7777735/das-laecheln-meiner-mutter


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