Romantisches
Divertimento
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Bewertung:
Vielleicht ist es einfacher als man denkt, die eigenen Eltern zu bestatten. Es hilft ungemein, sie ans offene Fenster zu setzen und abzuwarten, bis sie sich zu putzigen Püppchen verwandeln. Genau das macht Ana, die Erzählerin des Romans Das Kleid meiner Mutter. Während die toten Eltern, Blanca und Oscar, im heißen spanischen Sommerwind allmählich schrumpfen, schlüpft ihre Tochter Ana in die Kleider der Mutter, schminkt sich wie sie und wird fortan von den Nachbarn mit der schönen Blanca verwechselt. Kein Zufall, dass dieser Roman schon auf den ersten Seiten ausgesprochen märchenhafte Züge trägt: Das Romantische als literarische Form bleibt bis zuletzt der eigentliche Charakter dieser Geschichte.
Im Kleid der Mutter kommt Ana der verborgenen Familiengeschichte auf die Spur. Dabei sind Kleider nicht nur Mummenschanz, sondern dienen, ganz der schwarzen Romantik E.T.A. Hofmanns oder Ludwig Tiecks verpflichtet, auch als Mittel der Erkenntnis. Ana entdeckt das Doppelleben ihrer Mutter, und dies führt sie auf die Spur des großen Unbekannten: Des Schriftstellers Gert de Ruit. Dieser Herr wäre besser als Phantom zu beschreiben, das durch die Seiten des Romans wie ein romantischer Dämon spukt. Er ist zugleich Liebhaber der Mutter, geheimnisvoller Autor, den noch niemand gesehen hat und schließlich Genius der Romanlektüre: Dreh- und Angelpunkt des Romans sowie Schlüssel zu dessen Verständnis. So entspinnen sich unterschiedliche Erzählfäden, wobei die Handlungsebenen ineinander gespiegelt sind. Hier die Geschichte Anas, dort die verborgene Geschichte der Eltern und schließlich die Biografie von Gert de Ruit. Während Oskar, Anas Vater, als Literaturkritiker eng vertraut ist mit dem Werk des ominösen Schriftstellers, unterhält seine Frau eine Affäre mit diesem charismatischen Mann, der die Menschen in seinen Bann zieht, dessen Existenz jedoch eine einzige Flucht vor dem Leben darstellt. Am Ende verführt er auch Ana in Blancas Kleidern.
Das romantische Kompositionsprinzip der Spiegelung von Geschichten und Motiven zeigt sich in diesem Roman auf vielfältige Wiese: die verpuppten Eltern, die Verwandlung Anas, das zauberische Kleid. Neben diesem märchenhaften Inventar jedoch ist dies auch eine zeitkritische Geschichte über die desillusionierte, gut ausgebildete und arbeitslose Jugend Spaniens. Denn Anas Clique, die sich selbstironisch „La Plaga“ nennt, lungert auf den Plätzen Madrids herum und verbringt ihre Tage mit Gelegenheitsjobs. Aus wirtschaftlicher Not kehren sie in ihre Kinderzimmer zurück und vertreiben sich die Zeit, indem sie sich Geschichten erzählen. Doch dieses „Decamerone“ dient nicht der Weltflucht, sondern dem Versuch, die eigene Situation durch das Erzählen besser zu verstehen. Die Regel lautet: Die Geschichte muss wirklich passiert sein und in der historischen Gegenwart spielen. Es sind diese Erzählungen, die die irreale Motivlage des Romans konterkarieren. Etwa wenn von zwei Ladendieben die Rede ist, die ihre Familien ernähren müssen und das Diebesgut in Form von Tiefkühlkost unter ihren Mützen verstecken, dann aber durch Unterkühlung im Supermarkt zusammenbrechen. Die Verpuppung nicht nur der Gestalten, sondern auch der Geschichten ermöglicht es der Autorin, die desaströse Lage der Jugendlichen darzustellen, ohne dabei einem larmoyanten Realismus anheimzufallen. Vor allem die unprätentiöse Tonlage der Figurenrede gewinnt dabei eine symbolische Tiefe, die als der eigentliche Schatz dieser Prosa erscheint.
Anna Katharina Hahn ist eine bedeutende Stimme der jüngeren deutschen Literatur. Das Kleid meiner Mutter vereint manches, was man von einem guten Roman erwarten darf. Bei aller literarischen Dichte handelt es sich um eine ungemein lesbare Geschichte mit einem ganz unverkennbaren, sinnlichen Sound. Nicht zuletzt deshalb liest sich dieser Roman wie eine augenzwinkernde Selbstermutigung der Romantikerin in prekären Zeiten.
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Jo Balle - 1. April 2016 ID 9232
Anna Katharina Hahn | Das Kleid meiner Mutter
Gebunden, 311 Seiten
D: 21,95 € | A: 22,60 € | CH: 31,50 sFr
Suhrkamp Verlag, 2016
ISBN 978-3-518-42516-9
Weitere Infos siehe auch: http://www.suhrkamp.de/buecher/das_kleid_meiner_mutter-anna_katharina_hahn_42516.html
Post an Dr. Johannes Balle
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