Liebeserklärung
an Gelsenkirchen
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Bewertung:
Gerti und Leni – Mutter und Tochter haben vieles gemeinsam, sie lieben ihre Heimat, und sie schreiben beide gern Tagebuch, bei Leni sind es darüber hinaus auch noch Kurzgeschichten. Die beiden Frauen sind sich sehr nah, doch manche Dinge werden erst im Buch ausgesprochen. Denn kann es sein, dass die eigene Mutter eine große Liebe hatte, bevor sie den Vater kennenlernte? War die Mutter ein genauso verliebter Backfisch, wie es nun die Tochter ist?
Dazu wird zurückgeblickt, in die Zeit des Zweiten Weltkriegs.
„Ein halbes Jahr lang war Gerti als eine von 24 jungen Wehrmachtshelferinnen hier oben in Niedersachsen bei der Flak-Batterie im Einsatz gewesen. Kaum wieder zu Hause nach dem Arbeitsdienst bei verschiedenen Bauern, war der Einberufungsbefehl gekommen. Sie hatte ihn zerknüllt, hatte geweint und den Kopf geschüttelt. Nein, nicht schon wieder so weit weg von daheim!" (S. 8)
Heimat und die Sehnsucht danach ist hier ein gelebtes Gefühl. Als Gerti und ihre Freundin Ilse kurz vor Kriegsschluss endlich heimkehren dürfen, ist die Vorfreude groß. Doch dann lernen Beide unterwegs zwei junge Männer kennen und wandern ein Stück gemeinsam. In dieser harten Zeit nehmen für Gerti die großen Gefühle ihren Lauf. Schon bald müssen sich die Liebenden trennen, und der Weg wird frei für eine andere große Liebe, die im Ruhrgebiet nicht romantischer hätte beginnen können:
„Gerti hing an den Lippen von Heinz, während er erzählte, wie sie eines Tages die verschollene Taube am Schlag landen gesehen hatten. Er und Onkel Paul, der im Zechenhäuschen nebenan wohnte. Sie seien gleich die Leiter rauf in den Dachstock des kleinen Stalls, wo unten zwar keine Ziege und kein Kaninchen mehr anzutreffen waren, aber oben die vier Tauben gurrten – ja, jetzt waren es wieder vier!“ (S. 54)
Da Gerti der von ihr geretteten Brieftaube einen Zettel mit ihrer Anschrift mit auf den Weg gab, rief ihr die gute Tat gleich den späteren Ehemann ins Haus. Hochzeit und drei Kinder folgen. Leni, die jüngste, ist besonders wissbegierig und lernt schon Lesen und Schreiben bevor es in die Schule geht.
"Liebes Tagebuch, es passiert so viel! Ich könnte zig Seiten füllen, doch ich habe kaum Zeit dazu. Jetzt erst recht nicht…" (S. 25)
Die Geschichte von Gerti und Leni könnte allerorts passiert sein, könnte, denn die Geschichte der ersten Liebe, von Krieg und Wiederaufbau, aber auch von einem unvergesslichen Weihnachtsfest, gibt es überall. Doch dann wäre sie fast banal. So, wie Elke Schleich sie [in Wir haben alles hingrkriegt] schildert, kann es nur und wirklich nur im Ruhrgebiet geschehen sein und eigentlich auch nur in Gelsenkirchen. Das Buch ist atmosphärisch so dicht gewebt, dass mir die eigene Kindheit vor Augen steht – mit Gerüchen, Erlebnissen und selbst der vermaledeiten Mandelentzündung, die in den späten 1960er Jahren wohl fast alle Kinder und Jugendliche immer wieder traf. Doch das Buch ist nicht nur für „Einheimische“ wie mich gedacht, es erlaubt auch für den ganz normalen Leser, im Saarland, Hessen oder Franken einen intimen Blick in die Welt an der Ruhr. Und es macht Spaß diesem Blick nachzugehen.
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Ellen Norten - 19. September 2016 ID 9561
Elke Schleich | Wir haben alles hingekriegt
Die Geschichte von Gerti und Leni
176 Seiten, geb.
EUR 9,90
Verlag Henselowsky Boschmann, Bottrop 2016
ISBN 978-3-942094-60-3
Weitere Infos siehe auch: http://www.vonneruhr.de/elke_schleich.html
Post an Dr. Ellen Norten
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