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Buchkritik

In der Luft hängendes, gekettetes Selbst



Bewertung:    



Es gibt doch immer wieder Bücher, die ihre Leser gerade auch in ihrer überbordenden Fülle und Dichte (über 1000 Seiten) umhauen und nicht mehr loslassen. Der pulitzerpreisgekrönte Roman Der Distelfink (Orig. The Goldfinch, 2013) der 51jährigen US-Amerikanerin Donna Tartt ist ein solch eingängiges und betörendes Meisterwerk. Die Geschichte um das Erwachsenwerden des 13jährigen Theodore Decker lässt sich im Genre des Bildungs- und Adoleszenzromans oder der Coming of Age-Geschichte verorten, gleichzeitig enthält das Werk Krimi-Elemente und beschreibt authentisch reale Handlungsorte in New York, Las Vegas und Amsterdam. Im Zentrum der Handlung steht ein real existierendes Ölbild; „Der Distelfink“ vom niederländischen Maler Carel Fabritius aus dem Jahre 1654 (aktuell im Museum Mauritshuis, Den Haag, zu sehen).

Der 13jährige Theodore Decker und seine alleinerziehende Mutter besuchen vormittags ein New Yorker Kunstmuseum, in dem plötzlich eine Bombe hochgeht. Es gibt einen lauten Knall, Wände brechen ein, und es herrscht Chaos. Theo überlebt, findet jedoch seine Mutter nicht wieder, die sich zur Zeit des Terroranschlags in einem anderen Raum befand. Ein Sterbender bittet ihn, das in der Nähe hängende Ölgemälde "Der Distelfink" zu retten. Er packt es in seine Tasche und flieht aus dem Gebäude, in der Hoffnung seine Mutter daheim wiederzutreffen. Dort wartet er lange auf sie, bevor er erkennen muss, dass sich sein Leben ändern wird, da er fortan in Ermangelung verantwortungsvoller Erziehungsberechtigter auf sich alleine gestellt sein könnte. Seinen Besitz des Bildes, das er hütet wie einen Schatz, hält er geheim. Erst wird er von Vertretern des Jugendamtes bei den Barbours, der wohlhabenden Familie seines Freundes Andy, untergebracht. Dann lebt er bei seinem vor Jahren untergetauchten, verantwortungslosen, spiele- und drogenabhängigen Vater, der die Appartementwohnung von Theos Mutter plötzlich auflöst und ihn abholt und nach Las Vegas mitnimmt. Vereinsamt trifft er dort den gleichaltrigen Boris. Beide werden eine eingeschworene Gemeinschaft, übernachten beieinander und lernen sich gut kennen:


„...halbnackte Handgemenge, blasses Licht, das aus dem Bad hereinfiel, alles von einem Glanz überzogen und ohne meine Brille unscharf: Hände am Körper des anderen, grob und schnell, umgetretene Bierflaschen, die auf den Teppich schäumten – Spaß, und keine so große Sache, wenn es tatsächlich passierte, unbedingt lohnend für den Moment von scharfem Keuchen, in dem ich die Augen nach innen verdrehte und alles vergaß.“ (S. 399)


Als Jugendliche konsumieren Boris und Theo gemeinsam neben starken Alkoholika des Öfteren auch harte Drogen, später sogar Kokain und Heroin, auch um ihre gewalttätigen Väter ausblenden zu können:


„Ground Zero, ein bitterer Geschmack hinten im Hals und dann der Schwall der Erleichterung, rückwärts aufs Bett fallen, als mich der süße Kick direkt ins Herz traf: reine Lust, schmerzend und hell, weit entfernt vom Blechdosengeklapper des Elends.“ (S. 616)



"The goldfinch", Carel Fabritius (1622–1654), Öl auf Leinwand, Royal Picture Gallery Mauritshuis | Bildquelle © Wikipedia


Bei einem Autounfall kommt Theos Vater plötzlich ums Leben. Theo macht sich, direkt nachdem er die Nachricht erhalten hat, alleine mit einem Hund und dem Bild im Gepäck auf die Busrückreise nach New York. Er wird so zwangsläufig zum Überlebenskünstler der eigenen Gegenwart. Nach seiner Rückkehr findet er in New York Arbeit als Verkäufer in einem Antiquitätenladen des Möbelrestaurators Hobie. Immer wieder glaubt er zu erkennen, dass er seinem, von ihm einst gehassten und nun verstorbenen Vater ähnlicher ist, als er gedacht hätte:


„Aber selbst im Tod war mein Vater nicht auszuradieren, sosehr ich versucht hatte, ihn aus dem Bild zu wünschen – denn er war immer da, in meinen Händen, meiner Stimme und meinem Gang, meinem verstohlenen Seitenblick, wenn ich mit Hobie ein Restaurant verließ und meine ganze Kopfhaltung an seine alte eitle Angewohnheit erinnerte, sich in jeder spiegelnden Oberfläche prüfend zu mustern.“ (S. 531)


Halt findet er bei der Familie Barbour, die er in New York bald wiedertrifft:


„Damals fiel mir – im Gegensatz zu heute – nicht auf, dass es Jahre her war, seit ich mich aus der Betäubung meines Elends und meiner Selbstbezogenheit erhoben habe. Zwischen Anomie und Trance, Trägheit und Lähmung, am eigenen Herzen nagend, gab es viele kleine, einfache, alltägliche Freundlichkeiten, die ich verpasst hatte, und selbst das Wort Freundlichkeit fühlte sich an, wie in einem Krankenhaus aufzuwachen, Stimmen zu hören, Menschen um sich zu spüren, mehr zu sein als digitalisierte Lebenszeichen auf einem Bildschirm.“ (S. 624)


Der Distelfink liest sich als ein spannender, stimmungsvoller und sogar therapeutischer Roman. Immer wieder scheinen Drogenmissbrauch oder der Besitz des Bildes das Fehlen wichtiger Bezugspersonen wie der Eltern zu kompensieren. Der Leser leidet mit dem Protagonisten, fühlt mit, und gleichzeitig hat er stets das im Zentrum stehende, vieldeutig-symbolträchtige Bild vor Augen. Donna Tartts mehrfach preisgekrönter Bestseller hat jedoch durchaus auch kleine Schwächen. So gibt es im Erwachsenenalter Theos plötzliche, unvermutete Zeitsprünge. Einige Wendungen wirken arg konstruiert. Es verwundert etwa, wenn Theo plötzlich seine Verlobung und alle anderen Pläne in New York aufgibt, um mit Boris von einem Tag auf den anderen nach Amsterdam zu reisen und dort das Bild mit allen Tricks und Mitteln zurückzugewinnen. Der Protagonist weicht meist direkten Konfrontationen mit anderen Charakteren aus. So nimmt der Leser überwiegend nur die Erzählperspektive Theos wahr, was manchmal ein bisschen langatmig und einseitig ist. Statt etwa im letzten Kapitel die Erzählstränge aufzulösen und Theo in eine Konfrontation mit dem Erpresser Lucius Reeve treten zu lassen, spricht die Erzählinstanz unvermutet allgemeingültige Wahrheiten über das Leben und den Tod, was ein bisschen altklug, gleichzeitig aber durchaus poetisch anmutet. Die beschriebenen folgenreichen Erfahrungen des Bombenanschlags und des Kunstraubs haben schließlich in Zeiten brisanter Terroranschläge und eines jüngst Schlagzeilen machenden spektakulären Millionen-Kunstraubs im Museum Castelvecchio in Verona erstaunliche Aktualität. Schlussendlich ist Tartts dritter Roman jedoch vor allem auch für die Vorweihnachtszeit ein schönes Lektüreerlebnis, denn genau dann spielt ein Großteil der Erzählzeit. So ordnet der Protagonist etwa seiner Wiederbegegnung mit den Barbours in einem zeitlos-weihnachtlichen Sinnbild hohe Wertigkeit zu:


„Der Abend war ein traumartiges Durcheinander von Vergangenheit und Gegenwart: eine Kindheitswelt, die in mancher Hinsicht noch wundersam intakt war, in anderer schmerzlich verändert, als würden der Geist der vergangenen Weihnacht und der Geist noch zu kommender Weihnacht für einen Abend lang gemeinsam als Gastgeber fungieren.“ (S. 621)
Ansgar Skoda - 23. November 2015
ID 8999
Donna Tartt | Der Distelfink
1.024 S., Klappenbroschur
EUR 12,99
Goldmann Verlag, 2015
ISBN: 978-3-442-47360-1


Weitere Infos siehe auch: http://www.randomhouse.de/Buch/Der-Distelfink-Roman/Donna-Tartt/e329986.rhd


Post an Ansgar Skoda

http://www.ansgar-skoda.de



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